Extrem-Gewinne für Strombarone
Das grosse Marktversagen im Schweizer Stromnetz

Die Stromkonzerne nützen eine misslungene Marktreform aus. Sie offerieren Extrempreise zur Stabilisierung des Netzes. Die Aufsicht greift ein.
Publiziert: 27.11.2024 um 20:13 Uhr
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Aktualisiert: 27.11.2024 um 20:16 Uhr
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Hochspannungsleitungen im Kanton Waadt: Kommt eine Preisobergrenze?
Foto: KEYSTONE/Jean-Christophe Bott

Auf einen Blick

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Michael Heim
Handelszeitung

Die Chefs der grossen Stromkonzerne BKW, Axpo und Alpiq dürften an diesen News keine Freude haben. Ihre Händler haben der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid für Strom dieses Jahr zum Teil astronomisch hohe Preise verrechnet. Mit dem Ukraine-Krieg lässt sich dieses Marktversagen nicht mehr erklären. In einem Extremfall lag der Preis für ein Strompaket 300-mal höher als der zu erwartende, normale Marktpreis. Den Preis dafür zahlen letztlich alle Firmen und Haushalte. Die Marktaufsicht Elcom will das nicht länger tolerieren und fordert Preisobergrenzen. 

Tatort ist der Markt für Notstrom. Oder technisch ausgedrückt: der Markt für Sekundärregelenergie. Diese Energie stabilisiert das Netz innert fünf Minuten, wenn zu wenig oder zu viel Strom durchs Schweizer Netz fliesst. Das kann passieren, wenn ein Kraftwerk ausfällt oder die Sonnenscheinprognosen für den Solarstrom nicht stimmen. Damit verhindert die staatliche Betreiberin Swissgrid, dass das Stromnetz kollabiert. Tägliche Routinearbeit, die jedoch immer intensiver zum Einsatz kommt, weil Wind- und Solarstrom die Versorgung unberechenbarer gemacht haben.

Artikel aus der «Handelszeitung»

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Die Swissgrid sichert sich im Voraus Kapazitäten bei Kraftwerken oder anderen Partnern. Diese Ausgleichsenergie kostet. So weit, so gut, wenn da nur nicht die stark gestiegenen Preise wären.

Umstellung auf EU-Modell lässt Preise explodieren

Der Grund heisst «Picasso». 2022 wurde die Beschaffung in der Schweiz auf ein Marktsystem umgestellt, das auch die EU verwendet – mit der Überlegung, die Beschaffung dereinst in den europäischen Markt zu integrieren. Seither entsteht der Preis aufgrund von Offerten, welche die Kraftwerksbetreiber bereitstellen. Früher bezahlte die Swissgrid einfach einen Bonus von 20 Prozent auf den normalen Börsenpreis.

Doch diese Umstellung liess die Preise stark ansteigen. Zunächst führte man das auf die etwas wilde Marktsituation infolge des Ukraine-Kriegs zurück. Ab 2023 erholten sich die Preise denn auch ein wenig.

Doch 2024 stiegen die Kosten für die Regelenergie wieder deutlich an: Im Juni lag der Preis für eine Kilowattstunde Strom bei 29 Eurocent über dem Marktpreis von rund 5 bis 8 Cent, im Juli sogar 64 Cent darüber. Nach dem alten Modus, so rechnet die Marktaufseherin Elcom in einem vor kurzem publizierten Bericht vor, hätte der Aufpreis gerade mal 1 Rappen ausgemacht.

Grosse Nachfrage, kleines Angebot: Das treibt die Preise in die Höhe. Und das wird von den Anbietern ausgenutzt.

Abgeschotteter Markt ist teuer

Mittlerweile scheint klar: Weil die Schweiz zwar das EU-Marktdesign übernommen hat, aber wegen des Fehlens eines Stromabkommens immer noch einen abgeschotteten Marktplatz betreibt, befinden sich zu wenig Gebote auf der Plattform. Grosse Nachfrage, kleines Angebot: Das treibt die Preise in die Höhe. Und das wird von den Anbietern ausgenutzt.

Die Sommermonate blieben keine Ausreisser. Auch im August und im September mussten die Netzbetreiber rekordhohe Beträge für Regelenergie bezahlen. In Einzelfällen stiegen die Preise exorbitant an, wie der Blick in die Zahlen von Swissgrid zeigt: Am teuersten war eine Lieferung am 25. September: Für 102 Megawattstunden Ausgleichsstrom musste die Netzbetreiberin an diesem Tag fast 600’000 Euro bezahlen. Pro Kilowattstunde verrechnete die Lieferantin 5,80 Euro. Früher hätte sie dafür wohl etwa 10 bis 20 Rappen erhalten.

Strom zu entsorgen, wird zum dicken Geschäft

Noch verrückter zeigt sich der Markt für sogenannte negative Regelenergie. Also für den Fall, dass kurzfristig Abnehmer für Strom gesucht werden – etwa wenn zu viel Solarstrom ins Netz drückt. Früher mussten die Stromkonzerne in solchen Fällen etwas für die Energie bezahlen. Mittlerweile werden sie fürs Entsorgen des Stroms abgegolten, und das recht fürstlich.

300-mal so viel wie der normale Marktpreis von 5 bis 8 Cents

Allein im Juli bezahlte die Swissgrid Abnehmern von überflüssigem Strom rund 14 Millionen Franken. Pro Kilowattstunde machte das durchschnittlich rund 60 Rappen. Doch das ist nichts im Vergleich zu einzelnen Transaktionen. So übernahm am 13. Juli, kurz vor Mittag, ein Partner gut 100 Megawattstunden Strom zu 7 Euro pro Kilowattstunde. Der Rekordpreis von fast 15 Euro wird am 27. Juni verbucht: 300-mal so viel wie der normale Marktpreis von 5 bis 8 Cents.

Die Extrempreise kämen vor allem dann zustande, wenn viel Energie abgerufen werden müsse, sagt Swissgrid-Sprecher Noël Graber. Dann müssten auch sehr teure Gebote berücksichtigt werden. Oder anders gesagt: In Zeiten der Knappheit versagt das neue Marktmodell, solange es keinen Zugang zum europäischen Strommarkt gibt. Zur Freude all jener, die Strom liefern oder abnehmen.

Preisexplosion ohne vernünftige Begründung

In ihrem Bericht spricht die Elcom klare Worte: Die Entwicklung der Preise lasse sich «nicht offensichtlich mit fundamentalen Faktoren begründen». Dabei geht es um viel Geld. Bis Ende Oktober summierten sich die angesprochenen Zahlungen bereits auf gegen 100 Millionen Euro, wie aus den Zahlen der Swissgrid hervorgeht.

Inzwischen glaubt die Elcom selber nicht mehr an das neue Marktregime. Ihr Präsident, der frühere Berner Ständerat Werner Luginbühl, fordert nun eine Preisobergrenze für Sekundärregelenergie. «Wir sehen, dass die Preise stark ansteigen, und das, obwohl die Marktpreise eigentlich gefallen sind», sagt er zur «Handelszeitung». «Wir haben unsere Abklärungen abgeschlossen und kommen zum Schluss, dass nur ein Preis-Cap die Lösung sein kann.» Eine Preisobergrenze also. Es ist das Eingeständnis, dass die Marktreform versagt hat. 

Kraftwerksbetreiber setzen auf Widerstand

Luginbühls Preisdeckel würde diese Geschäfte ausbremsen. Entsprechend stösst er auf Widerstand, wie in Branchenkreisen zu hören ist. Die Umsetzung dürfte zum Powerplay werden, denn im Gesetz ist eine Preisobergrenze nicht vorgesehen.

«Unser Ziel ist, dass die Swissgrid einen solchen Cap in die Verträge mit den Partnern einbauen kann», sagt Luginbühl und fügt an: «Wenn das nicht gelingt, könnten wir entsprechende Verfügungen ausstellen.» Doch dagegen könnten sich die Stromfirmen juristisch wehren.

Damit die Vertragslösung gelinge, brauche es die Zustimmung aller Parteien, sagt Swissgrid-Sprecher Graber. Die entsprechenden Verträge sind offenbar schon verschickt worden und liegen nun bei den Stromkonzernen. Dem Vernehmen nach wehren sich offenbar primär die grossen Kraftwerksbetreiber gegen die neue Klausel.

Die BKW bestätigt auf Anfrage, den neuen Vertrag mit Preisobergrenze zu akzeptieren. Axpo und Alpiq hingegen wollen die Forderung der Elcom nicht kommentieren und schreiben, sie würden den Vertrag derzeit prüfen. Anders gesagt: Sie tun sich schwer mit einer freiwilligen Preisbeschränkung.

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