Nach Stocker Urteil – FDP-Caroni stellt Wohnsitzpflicht infrage
«Das schränkt die Wahlfreiheit der Bürger ein»

Die Wohnsitzpflicht hat dazu geführt, dass SP-Ständerat Simon Stocker sein Amt als Ständerat verloren hat. Ständeratspräsident und Jurist Andrea Caroni findet, die Stimmberechtigten sollten frei entscheiden können.
Publiziert: 30.03.2025 um 14:56 Uhr
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Aktualisiert: 30.03.2025 um 16:51 Uhr
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Andrea Caroni ist Ständeratspräsident und Jurist.
Foto: keystone-sda.ch

Darum gehts

  • SP-Ständerat Simon Stocker verliert Ständeratssitz wegen Wohnsitzfrage
  • Bundesgericht hat am Mittwoch Wahl aufgehoben
  • Stimmberechtigte tun gut daran, sich nicht zu stark einzuschränken, findet Andrea Caroni
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Céline ZahnoRedaktorin Politik

Simon Stockers Wahl wurde aufgehoben, weil er seinen Wohnsitz zur Zeit seiner Wahl nicht in Schaffhausen, sondern in Zürich hatte. Ist die Wohnsitzpflicht noch zeitgemäss?
Gemäss Bundesverfassung entscheidet jeder Kanton selber, welche Kriterien er für Ständeratswahlen aufstellen will. Auffälligerweise kennen alle Kantone eine Wohnsitzpflicht. Dies schränkt eigentlich die Wahlfreiheit der Bürger ein. Dafür braucht es natürlich gute Gründe – diese tragen heute aber nicht mehr gleich wie früher.

Welche Gründe sind das?
Früher wollte man einerseits sicherstellen, dass jemand weiss, was im Kanton läuft, den er vertritt. Heute kann man sich von überall über das Lokalgeschehen informieren. Zweitens sollte jemand – namentlich in exekutiven Ämtern wie einem Gemeindepräsidium – sofort erreichbar sein, wenn es politisch brennt. Aber heute ist man mobiler als früher, und Ständeräte machen nationale Politik. Der dritte Grund: Jemand soll von den eigenen Entscheiden auch betroffen sein. Da ist der kantonale Wohnsitz zwar ebenfalls für einen Gemeindepräsidenten relevant, für einen nationalen Politiker aber wiederum kaum.

Das hiesse dann, Sie als Appenzell Ausserrhoder könnten künftig zum Beispiel auch Appenzell Innerrhoden oder Zürich als Ständerat vertreten.
Die Stimmberechtigten werden immer wollen, dass ihre Vertreter die Anliegen des Kantons gut kennen. Die Frage ist, ob es dafür wirklich eine starre rechtliche Vorgabe braucht oder ob man den Stimmberechtigten die Freiheit lässt, selber auszuwählen, wer sie am besten vertritt. Ich finde, die Stimmberechtigten tun gut daran, wenn sie sich mit ihrer eigenen Verfassung nicht zu stark einschränken. Sie können dann jeden Einzelfall beurteilen und frei nach ihrer Präferenz wählen. Damit würden auch Fälle wie der von Simon Stocker vermieden. Die Stimmbevölkerung wollte ihn damals wählen, die Verfassung liess es aber – wie wir jetzt wissen – nicht zu.

Andrea Caroni

Andrea Caroni (44) sitzt seit neun Jahren für den Kanton Appenzell Ausserrhoden im Ständerat. Dieses Jahr wurde er turnusgemäss zum Präsidenten des Ständerats gewählt. Der promovierte Jurist war zuvor vier Jahre lang Nationalrat und von 2008 bis 2010 persönlicher Mitarbeiter des damaligen Bundesrats Hans-Rudolf Merz. Er wohnt mit seiner Partnerin und zwei Kindern in Herisau.

Andrea Caroni (44) sitzt seit neun Jahren für den Kanton Appenzell Ausserrhoden im Ständerat. Dieses Jahr wurde er turnusgemäss zum Präsidenten des Ständerats gewählt. Der promovierte Jurist war zuvor vier Jahre lang Nationalrat und von 2008 bis 2010 persönlicher Mitarbeiter des damaligen Bundesrats Hans-Rudolf Merz. Er wohnt mit seiner Partnerin und zwei Kindern in Herisau.

Sie plädieren also dafür, denn Stimmberechtigten mehr politische Freiheit zu gewähren.
Das soll jeder Kanton selbst entscheiden. Aber es gibt mittlerweile gute Gründe, den die Stimmberechtigten zu erlauben, auch jemanden zu wählen, der die Wohnsitzpflicht im strengen rechtlichen Sinne nicht vollständig erfüllt, aber sonst eng mit dem Kanton verbunden ist. Heute ist jemand unwählbar, wenn er vierzig Jahre in diesem Kanton gewohnt hat, aber kurz vor dem Wahltag in den Nachbarkanton zügelt. Umgekehrt ist wählbar, wer erst seit einem Tag im Kanton Wohnsitz hat. Rechtlich starre Schranken können also ein Problem sein.

Würde eine Aufhebung der Wohnsitzpflicht nicht den Sinn des Ständerats aufweichen? Die Gewählten sollen schliesslich die Kantone vertreten.
Die Bedeutung des Ständerats ergibt sich aus verschiedenen Elementen: Aus der fast gleichmässigen Vertretung der Kantone; aus der verbreiteten Majorzwahl, welche die Partei in den Hintergrund rücken lässt; und aus der geringeren Zahl, welche die enge Zusammenarbeit prägt. Wen die Leute dafür auswählen, sollen sie selbst entscheiden. Ich bin überzeugt, dass die Bevölkerung auch ohne Wohnsitzpflicht weiterhin Personen wählen würde, die den Kanton gut kennen und dort bekannt und aktiv sind. Die Appenzell Innerrhoder würden kaum jemanden wählen, der sein ganzes Leben in Genf verbracht hat und nur Französisch spricht.

Sie sind Jurist und gelten normalerweise als Liebhaber der Verfassung. Wieso in diesem Fall nicht?
Natürlich auch in diesem Fall. Die Bundesverfassung sagt ja eben, dass Kantone ihre Regeln selber festlegen dürfen. Dazu gehört auch, dass sie sie ändern können, wenn sie das wollen.

Der Fall Stocker ist ein Präzedenzfall. Wird der Wohnsitz bei künftigen Wahlen nun stärker zum Thema?
Die Wohnsitzpflicht ist eigentlich nichts Neues. Aber ja, vielleicht wird der Wohnort bei künftigen Wahlen stärker infrage gestellt. Für mich ist das Entscheidende an diesem Urteil sowieso ein anderer Punkt.

Welcher?
Dass die Wahl, obschon sie in einem Punkt nicht rechtskonform war, nur für die Zukunft aufgehoben wurde. Alle Gesetze, Budgets und Wahlen, welche die Person mitentschieden hat, bleiben gültig. Andernfalls hätte das Urteil kolossale Auswirkungen gehabt.

Sie sind dieses Jahr Ständeratspräsident. Was macht einen guten Ständerat aus?
Er muss die vielfältigen Interessen und Ansichten, die seine Kantonsmitbewohner haben, mit den eigenen Wertvorstellungen und der Faktenlage abgleichen und dann auf nationaler Ebene einbringen. Dafür muss man sich einerseits sehr für seine Heimat und Menschen interessieren und zum anderen viel Zeit und Energie verwenden, um sich in die Dossiers hineinzuknien und dann Mehrheiten zu finden.

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