Sie heisst Phoebus. Im Tiktok-Video schnurrt sie wohlig auf dem Arm ihrer strahlenden Besitzerin. Wenige Kilometer von Paris entfernt, in der Kleinstadt La Celle-Saint-Cloud, züchtet Marine Le Pen Bengalkatzen. Die dafür behördlich vorgeschriebene Schulung hat die 53-jährige Kandidatin für das französische Präsidentenamt während des Covid-Lockdowns absolviert: «Ich könnte alles hinschmeissen und etwas anderes machen. Katzen züchten zum Beispiel», vertraute die Chefin der Partei Rassemblement National (RN) kürzlich einer französischen Zeitung an. Marine, das Büsi-Mami.
Jahrzehntelang war der Name Le Pen ein Synonym für die Schmuddelecke des französischen Rechtsextremismus. Als Marine Le Pen 2017 bei der TV-Debatte vor dem entscheidenden zweiten Durchgang der letzten Präsidentschaftswahl aggressiv und inkompetent wirkte, schien sie sich endgültig für das höchste Amt der Grande Nation disqualifiziert zu haben.
In den letzten Monaten aber startete sie eine Charmeoffensive und versuchte sich als moderate Staatsfrau mit sozialen Ideen zu präsentieren. Ihr Wahlkampf steht unter dem Motto: «Marine – femme d’État». Der Name ihres Vaters Jean-Marie Le Pen (93), der den millionenfachen Judenmord durch Deutschlands Nazis als «Detail der Geschichte» bezeichnet hatte, wird nicht mehr erwähnt: Es gibt nur noch Marine. Die singt bis um ein Uhr morgens Chansons, gärtnert leidenschaftlich gern und wohnt mit ihrer besten Freundin in einer WG.
Ein Drittel findet sie «sympathisch und herzlich»
«Freunden schicke ich Fotos von meinen Blumen», erzählte sie Talkshow-Moderatoren. Zu einem gewinnenden Lächeln trägt sie einen pastellfarbenen Blazer. Inzwischen findet ein Drittel der Franzosen das Gesicht der rechtsextremen Kandidatin «sympathisch und herzlich». «Sie kann, man muss es so sagen, ziemlich nett sein», schreibt sogar das linksliberale deutsche Wochenblatt «Die Zeit» nach einer Begegnung mit «Tante Marine».
Der Imagewandel hat sich ausgezahlt: Heute in einer Woche gibt es ein Déjà-vu des TV-Streitgesprächs mit Emmanuel Macron (44), dem amtierenden Staatsoberhaupt.
1968 kam sie in Neuilly-sur-Seine zur Welt – als Marion Anne Perrine Le Pen. Selbst ihr Name ist offenbar wandlungsfähig. Die Franzosen kennen die jüngste Tochter von Jean-Marie und seiner Ex-Frau Pierrette, seit sie ein Kind ist. Für Zeitschriften wird das Mädchen im rosa-weiss karierten Kleid abgelichtet, aufgezogen wird sie von einer Nanny. In ihrer Autobiografie schildert sie spezielle Probleme ihrer Schulzeit. So schrieb ein Lehrer «Vater Faschist» an den Rand ihrer Klassenarbeit. Als sie acht Jahre alt ist, wird ein Bombenattentat auf das Wohnhaus ihrer Familie verübt. Die kleine Marine zieht ihre Schlussfolgerung: «Das war der Tag, an dem ich verstanden habe, dass Politik Gewalt ist.»
Katze von Vaters Hund zu Tode gebissen
Als junge Erwachsene schwirrt sie durch das Pariser Nachtleben, tanzt Zouk im bekanntesten Afro-Klub der Stadt. Es folgen eine Laufbahn als Anwältin, als die sie häufig Sans-Papiers verteidigt, zwei gescheiterte Ehen, drei Kinder. 2011 übernimmt Le Pen den Parteivorsitz von ihrem Vater.
Der Bruch folgt 2015, als sie ihn wegen «schwerer Verfehlungen» aus der Partei wirft. Kurz zuvor hatte sie behauptet, ihre Katze sei von seinem Hund zu Tode gebissen worden.
Die Dynastie würde genügend Stoff für eine tragikomische Serie liefern: ein Clanchef mit Augenklappe, eine Mutter, die sich nach schmutzigem Scheidungskampf aus Rache für den «Playboy» fotografieren lässt, eine Nichte – Marion Maréchal – die vor kurzem zum noch rechtsradikaleren Konkurrenten Éric Zemmour (63) übergelaufen ist.
«Reflexe der Linken»
Nachdem Marine den Vater abserviert hatte, machte sie aus dessen Front National das Rassemblement National, aus der Front eine Versammlung. Mit ersten Erfolgen: Während sie beim letzten Präsidentschaftsduell die «republikanische Front» gegen sich hatte, gilt eine Stimme für den «RN» in Teilen dieser Kreise inzwischen als akzeptabel.
Statt wie früher gegen den Islam zu hetzen, umgarnt die Nationalistin heute Wähler, für die soziale Fragen Priorität haben. Wann immer möglich, bezeichnet sie Emmanuel Macron als «Jupiter-Präsidenten» und greift die «Eliten» so gewieft an, dass es viele Wähler vergessen lässt, wie privilegiert das Milieu ist, aus dem sie selbst stammt. Marine, die Anwältin der kleinen Leute.
Ihre Vorschläge für Frankreichs Wirtschaft ähneln stark denen von Jean-Luc Mélenchon (70), dem Linksaussen, der beim ersten Wahlgang vor einer Woche auf dem dritten Platz landete. Le Pen besitzt die «Reflexe einer Linken», resümierte kürzlich ein TV-Polit-Analytiker. Richtig ist: Sie vermischt rechtsradikales Gedankengut mit progressiven ökonomischen Anliegen.
Politisches Erdbeben für Europa
In ihrem Programm gilt noch immer der Leitsatz «Les Français d’abord», die Franzosen zuerst. Dies wissen auch Le Pens Stammwähler, die wie früher skandiert: «On est chez nous» (wir sind hier zu Hause).
In den USA verhalfen 2016 Anhänger des Radikal-Demokraten Bernie Sanders (80) Donald Trump (75) zum Sieg. Laut neusten Umfragen könnten 28 Prozent von Mélenchons Wähler für Le Pen stimmen.
Für Europa würde «La Pen» auf dem Präsidentensessel ein politisches Erdbeben bedeuten. Zwar predigt sie nicht mehr den «Frexit», den Austritt aus der EU, doch könnte sie ihre Wahlversprechen realisieren, würde dies einer Mitgliedschaft Frankreichs faktisch widersprechen. Sie will die Europäische Union «von innen heraus verändern» und ein «Europa der Nationen» schaffen.
Sympathien für die Schweiz, dank Minarett-Initiative
In ihrem auf Hochglanzpapier gedruckten Programm kündigt sie die Wiedereinführung der Grenzkontrollen an, eine Reduzierung des Beitrags zum EU-Haushalt und ein Ende des Prinzips, dass europäisches Recht Vorrang vor nationalem Recht hat. Sie plant, die Zusammenarbeit mit Deutschland im Bereich der Verteidigung zu beenden und aus der Kommandostruktur der Nato auszutreten.
Wie Le Pen über das Rahmenabkommen zwischen Bern und der EU denkt, ist nicht bekannt. Allerdings hegt sie grosse Sympathien für die Schweiz, nicht zuletzt seit dem Sieg der Minarett-Initiative, die sie als Musterbeispiel für ihr Programm regelmässiger Volksabstimmungen empfiehlt.
Annexion der Krim gerechtfertigt
Enge Beziehungen pflegt Le Pen zu Ungarns autokratischem Premier Viktor Orban (58), die westeuropäische Einheit gegen Russland wäre mit ihr als Präsidentin am Ende. Die Annexion der Krim hat sie stets gerechtfertigt, kürzlich erklärte sie, Putin könne «selbstverständlich» wieder ein guter Partner für den Westen werden.
Nun nimmt Marine Le Pen zum dritten Mal Anlauf auf das höchste Amt in Frankreich. Umfragen zeigen Macron als Favoriten, im Vergleich zur letzten Präsidentschaftswahl hat sie jedoch den Abstand deutlich verringert. Schafft sie es, wären ihr damit zwei politische Sensationen gelungen: die erste Madame La Présidente und eine rechtsextreme Exekutive im Élysée.
Sollte es nicht klappen, bleiben ihr immer noch die Bengalkatzen.