Bevor Mani Koller (47) vor drei Jahren an der Pädagogischen Hochschule (PH) Zug die Ausbildung zum Lehrer begann, war es 25 Jahre her, seit er das letzte Mal ein Schulhaus von innen gesehen hat. Nun richtet er sein eigenes Klassenzimmer ein. Übernächsten Montag übernimmt der frisch ausgebildete Lehrer seine erste Klasse – in Zürich-Höngg, mit einem 50-Prozent-Pensum zusammen mit einer Stellenpartnerin.
Koller ist Quereinsteiger. Zuvor hat er 25 Jahre als Kameramann beim Fernsehen gearbeitet. Er sagt: «Ich habe in meinen Beruf die ganze Welt bereist, war jeden Tag unterwegs. Nun habe ich noch 18 Jahre bis zur Pensionierung und eine neue Herausforderung gesucht.»
Erst war Koller unsicher, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Bevor er die dreijährige Ausbildung begonnen hat, hatte er sich mit anderen Quereinsteigern ausgetauscht. Einmal an der PH, gab er sich ein Dreivierteljahr, um sich definitiv zu entscheiden. Heute sagt er: «Nach kurzer Zeit an der PH und in den Praktika habe ich gemerkt, dass ich mich richtig entschieden habe.» Mit seinem Berufswechsel hilft er, den Lehrermangel zu entschärfen.
«Demografischer Wandel hat die Schweiz erfasst»
Ein Thema, das auch Thomas Minder (47) umtreibt. Immerhin: Dieses Jahr musste er nicht zum Speeddating. Vor einem Jahr konnte er nur noch in letzter Minute die letzten offenen Stellen an seiner Schule in Eschlikon TG besetzen.
Minder, Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH), erinnert sich an diese Veranstaltungen: Schulleiter trifft Lehrperson, ein paar Minuten Kennenlernen, weiter zur nächsten potenziellen Arbeitnehmerin. Der oberste Schweizer Schulleiter ging ebenfalls auf Praktikanten und Personen ohne Lehrerausbildung zu, die gut mit Kindern umgehen können.
Mehr zum Lehrermangel
Heuer lief es glatter. Minder sagt: «Wir konnten bei uns alle Stellen frühzeitig besetzen. Die Personalsituation an Schweizer Schulen ist leicht besser als im vergangenen Jahr. Aber sie bleibt sehr angespannt. Der demografische Wandel hat die Schweiz erfasst.»
Dachverband warnt seit längerem
Eine Umfrage bei den Kantonen stützt Minders Einschätzung. Sie zeigt: Der Lehrpersonenmangel ist praktisch überall chronisch. Zwar teilen die Kantone mit, dass im kommenden Schuljahr vor jeder Klasse eine Lehrperson stehen werde. Aber die Lage ist und bleibt prekär.
Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) warnt seit längerem vor einem akuten Mangel an Lehrpersonen. Das Bundesamt für Statistik (BfS) rechnet vor, dass dieser noch mindestens bis Ende des Jahrzehnts anhalten wird.
Die Gründe dafür sind vielfältig: In den meisten Kantonen nimmt die Zahl der Schulkinder zu. Zudem erfasst die Pensionierungswelle der Babyboomer auch die Schulen. Viele dieser Lehrkräfte haben Vollzeit gearbeitet. Die Millenial-Generation hingegen arbeitet oftmals nur Teilzeit. Sei es, um Beruf und Familie besser vereinbaren zu können, sei es zum Schutz der eigenen Gesundheit. Dazu kommt der generelle Fachkräftemangel, den die Schulen ebenso spüren.
Auch pädagogische Hochschulen reagieren
Deutliche Worte zur Personal-Problematik findet Beat A. Schwendimann (48), Leiter Pädagogik beim LCH: «Die Kantone haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht und den Ernst der Lage heruntergespielt. Sie haben zu lange gewartet, um nachhaltige Massnahmen gegen den Lehrpersonenmangel zu ergreifen. Ein Versäumnis, das sich nun auf die Schule auswirkt.»
Die Folgen dieses Versäumnisses hätten wir bereits im vergangenen Sommer erlebt, als bis kurz vor Schulstart nicht klar gewesen war, ob vor jeder Klasse eine Lehrperson stehen würde – und ob diese Person eine entsprechende Qualifikation vorweisen könne. «Es ist abzusehen, dass sich diese Situation diesen Sommer wiederholen wird», prognostiziert Schwendimann und widerspricht damit Minder. Der LCH will darum im Spätherbst mit mehreren kantonalen Sektionen einen «Aktionsplan Bildungsqualität» lancieren. Damit soll die Öffentlichkeit sensibilisiert und mit politischen Instrumenten die Politik zu konkretem Handeln gezwungen werden.
Bereits seit einiger Zeit gibt es an vielen PHs deshalb Programme für Quereinsteiger mit Hochschuldiplom und Berufserfahrung, die nur zwei statt der üblichen drei Jahre dauern. Mit dem verschärften Lehrermangel gingen einige Kantone noch weiter: Sie boten Sommercamps für Personen ohne offizielles Diplom an.
«Notlösungen sind eine bedenkliche Entwicklung»
Der LCH begrüsse, dass motivierte Personen auf dem zweiten Bildungsweg als Quereinsteigende in den Lehrberuf einsteigen wollen, so Schwendimann. «Sie können aufgrund ihrer Lebens- und Arbeitserfahrung eine Bereicherung für die Schule sein.»
Allerdings könnten solche Anstellungen ein Kollegium auch belasten, mahnt er. «Oftmals helfen erfahrene Teammitglieder den neuen Kolleginnen und Kollegen aus. Sie leisten also Mehrarbeit.» Es sei aus Sicht des LCH bedenklich, wenn Kantone als «Notlösungen» die Anforderungen an künftige Lehrpersonen immer weiter senkten. Dadurch werde der Lehrpersonenmangel kaschiert, es entstehe ein qualitativer Mangel.
Lebenserfahrung als Kapital
Mani Koller ist darum froh über die Ausbildung an der PH – auch wenn sie streckenweise herausfordernd war. Dem Schulstart schaut er positiv entgegen, auch weil er an der Schule offen empfangen wurde. «Jetzt muss ich den Tatbeweis erbringen. Und ich werde bestimmt auch ab und zu scheitern. Aber in meinem Alter ist man auch entspannter.»
Sein grösstes Kapital, schätzt der Lehrer, sei seine Lebenserfahrung. «Ich kann aus meinem grossen Erfahrungsschatz schöpfen und eigene Erfahrungen teilen.» Diese Offenheit für neue Erfahrungen möchte er auch seinen Schülerinnen und Schülerin mit auf den Weg geben.