Es will einfach nicht werden. 2022 hätte das Jahr von Ignazio Cassis (61) werden sollen. Vier Jahre, nachdem der Tessiner in den Bundesrat gewählt wurde, bekleidet er nun das Amt des Bundespräsidenten. Der Posten bietet die Chance, Akzente zu setzen, zu gestalten, sich dem Land zu zeigen.
Guy Parmelin (62) gelang dies 2021 bravourös: Der Waadtländer SVP-Wirtschaftsminister, bis dahin als etwas unbeholfener Landwirt wahrgenommen, der in Bermudashorts am Bundesratsreisli aufkreuzte, überraschte im zweiten Jahr der Corona-Krise als besonnener Landesvater. Er versuchte die pandemieverkrachte Schweiz zu einen und glänzte auf dem internationalen Parkett. Dass sein Staatssekretariat für Wirtschaft währenddessen in der Frage der Corona-Hilfen alles andere als glänzte, ging darüber glatt vergessen.
Burkhalter nutzte die Chance
Cassis hingegen hat seine Rolle als Bundespräsident noch immer nicht gefunden – und es ist schon Ende Juli. Dabei bot sich ihm, so zynisch das klingen mag, mit dem Angriff auf die Ukraine geradezu eine Sprungschanze. Als Aussenminister hätte er so oder so im Zentrum gestanden, so wie einst sein Amtsvorgänger Didier Burkhalter (62), in dessen Präsidialjahr die russische Annexion der Krim fiel.
Burkhalter nutzte die Schanze. Cassis taumelt immer wieder. Jüngstes Beispiel: die Frage, ob die Schweiz verletzte Ukrainerinnen und Ukrainer gesund pflegen könne. Nachdem Russland gezielt ukrainische Spitäler zerbombt hat, werden dort die Kapazitäten knapp. Zuerst lehnte das Aussendepartement (EDA) die Aufnahme aus neutralitätsrechtlichen Gründen ab – um später zu erklären, nun doch mehr als 100 Kinder und deren Mütter aufnehmen zu wollen.
Zahlreiche Volten
Dazwischen lagen drei Tage Empörung in den Medien, in der Politik, in der Bevölkerung. Es ist nicht das erste Mal, dass Cassis – oder seine Leute – Entscheide aufgrund von Kritik umstossen. Die Zeitungen von CH Media schreiben am Freitag von «Pirouetten-Cassis» und zählt genüsslich seine Volten auf:
- Doppelpass: Noch vor der Wahl in den Bundesrat gab Cassis seinen italienischen Pass ab, als SVP-Politiker die doppelte Staatsbürgerschaft skandalisierten.
- Waffenlobby: Kurz vor der Wahl trat er der Waffenlobby-Organisation Pro Tell bei – und wieder aus, als Kritik daran laut wurde.
- Tabak-Sponsoring: Der Tabakkonzern Philip Morris sollte den Schweizer Pavillon an der Weltausstellung in Dubai sponsern. Der ehemalige Kantonsarzt Cassis verteidigte das, bis er der Empörung nachgab und den Konzern wieder auslud.
- Sanktionen: Kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wollte die Schweiz nichts wissen von Sanktionen, Cassis druckste herum und überliess Nachfragen völlig überforderten Beamten. Nach massiver Kritik im In- und Ausland ruderte die Regierung zurück – und schloss sich den Sanktionen der EU an.
Kein Instinkt oder zu viel Gefühl?
Für CH Media liegt dieser Zickzackkurs in nahezu allen Themen daran, dass weder Cassis noch sein Stab über politischen Instinkt oder analytisches Talent verfügten. Die «Weltwoche» hingegen sieht den Grund in Cassis' Emotionalität. Statt von nüchternen Analysen lasse er sich von Gefühlen leiten. Als Beispiel zieht die Zeitschrift eine Szene heran, in der Cassis Ende März in Polen ukrainische Flüchtlinge traf – und angesichts der Schicksale von seinen Emotionen überwältigt wurde. «Es stört ihn offenbar nicht, dass man ihn weinend in einem polnischen Flüchtlingslager fotografiert. Dabei müsste er vor allem einen kühlen Kopf bewahren», schreibt das Blatt.
Nun spricht, zumal bei einem Staatsmann, nichts gegen einen kühlen Kopf. Aber auch nichts dafür, ein Herz aus Stein zu haben. Erschütterung und Mitleid im Angesicht des Grauens zu zeigen, ist ein Zeichen von Stärke. Gerade bei einem Staatsmann.
Cassis will gemocht werden – zu sehr
Cassis' Problem scheint woanders zu liegen: Es fehlt ihm an Standhaftigkeit in seinen Überzeugungen. Ja, dann wäre er halt Bundesrat mit Schweizer und italienischem Pass! Nicht der erste Doppelbürger in diesem Amt. – Na und, dann ist er eben Mitglied in einem Waffenverein. Ueli Maurer (71) zieht sich Trychlerhemden über. – Ja, es gibt Gründe, sich den Sanktionen gegen Russland nicht anzuschliessen. Man muss sie aber benennen und verteidigen. Davon überzeugt sein.
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Doch wenn Cassis Überzeugungen hat, dann zeigt er sie nicht. Gesprächspartner beklagen schon lang, dass er immer die Meinung desjenigen vertrete, mit dem er zuletzt gesprochen habe. Denn er will gemocht werden, sich mit niemandem anlegen. Der Preis, den er dafür zahlt: Von Zeit zu Zeit fliegt ihm alles um die Ohren.
Der Schaden war angerichtet
Nicht immer ist es seine Schuld. Viele Entscheide, die er vertreten muss, hat der Bundesrat gefällt. Oft liegt das Problem auch in der Kommunikation, die sein Stab einfach nicht in den Griff kriegt. Das Neutralitätsrecht verbietet es uns, Soldaten kriegsführender Staaten zu behandeln und wieder an die Front zu schicken? Das ist kein Grund, die Anfrage nicht zu beantworten. Und beispielsweise aktiv anzubieten, Zivilisten aufzunehmen.
Doch diese Idee ist im EDA offenbar niemandem gekommen. Damit war der Schaden angerichtet. Wieder einmal.
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