Montag und Dienstag hat die Welt nach Lugano geblickt und auf den Schweizer Bundespräsidenten. Am Donnerstag stellte sich Ignazio Cassis (61) in Bern den Fragen von Christian Dorer in der Blick-TV-Sendung «Hier fragt der Chef».
Herr Bundespräsident, Sie haben die Lugano-Konferenz als historisch bezeichnet. Warum?
Ignazio Cassis: Weil eine Konferenz, die sich mit dem Wiederaufbau beschäftigt, während noch Krieg herrscht, wirklich historisch ist.
Die Ukraine sagt, sie brauche für den Wiederaufbau 750 Milliarden Dollar – eine riesige Summe! Woher soll das Geld kommen?
Das Gros des Geldes soll aus dem Privatsektor kommen. Aber ein Teil wird auch von den Wiederaufbau- und Entwicklungsbanken kommen.
Ist denn genug Geld da?
Ja. Voraussetzung ist, dass der Krieg aufhört, dass es einen Waffenstillstand oder einen Friedensvertrag gibt. Wenn dann wirklich wieder aufgebaut werden kann, werden Private Milliarden investieren, da habe ich keine Zweifel. Die Ukraine ist ein sehr interessantes Land für Investoren, vorausgesetzt, dass die Reformen durchgesetzt werden, beispielsweise gegen Korruption.
Die Ukraine will auch beschlagnahmte Gelder der Oligarchen einsetzen. Warum sind Sie dagegen?
Ich bin nicht dagegen. Ich finde es sogar eine wichtige Frage, die geprüft werden muss. Ziehen wir die Gelder ein, müssen wir uns aber im Klaren sein, dass wir ein Grundrecht brechen: das Recht auf Eigentum. Wir können Grundrechte verletzen – aber nicht à la légère. Dafür braucht es eine gesetzliche Basis, und es muss verhältnismässig sein. Mein Eindruck ist, dass diese Diskussion sehr leichtfertig geführt wird.
Die grossen Namen haben in Lugano gefehlt: Biden, Macron, Scholz – sie alle waren nicht in Lugano. War das auch für Sie enttäuschend?
Nein, es ist kein Filmfestival, sondern eine internationale Konferenz. Es geht darum, die Staaten und multinationalen Organisationen dabei zu haben, und von denen waren praktisch alle da.
Sie hatten engen Kontakt mit der Spitze der Ukraine, Präsident Wolodimir Selenski war per Video zugeschaltet. Was ist Ihr Eindruck, wie ist die Moral der Ukrainerinnen und Ukrainer?
Man spürt, dass eine gewisse Ermüdung nach mehr als 100 Tagen Krieg da ist – selbstverständlich. Es sind so viele Menschen gestorben, über zehn Millionen sind vertrieben worden. Es ist ein Land, das praktisch keinen Wohlstand mehr produziert und vom Geld der anderen leben muss, um zu überleben. Es ist ein zerstörtes Land. Und trotzdem spüre ich diese kämpferische Seite in allen.
Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Arzt wurde 2007 in den Nationalrat gewählt und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Cassis steht dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor. In diesem Jahr amtet er als Bundespräsident.
Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Arzt wurde 2007 in den Nationalrat gewählt und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Cassis steht dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor. In diesem Jahr amtet er als Bundespräsident.
Wie stark spüren Sie Druck auf Präsident Selenski, Kompromisse einzugehen, um den Krieg schnell zu beenden?
Ich denke, je länger der Krieg dauert, desto höher wird der Druck auf Selenski. Seine Bevölkerung, die 40 Millionen Menschen, werden auch kriegsmüde. Vielleicht werden sie bereit sein für Kompromisse – auch wenn diese für die Ukraine Verluste bedeuten.
Präsident Selenski hat Sie einmal mehr eingeladen, nach Kiew zu kommen. Warum wollen Sie eigentlich partout nicht gehen?
Ich will nicht partout nicht gehen! Ich gehe nicht als Tourist nach Kiew. Ich gehe dann, wenn ich einen Grund habe, und im Moment gibt es keinen.
Er hat Sie ja nicht als Tourist eingeladen, sondern als Bundespräsident.
Natürlich, aber das macht man unter sich freundlich gesinnten Ländern ja immer. Irgendwann wird es einen Grund geben, und dann werde ich in die Ukraine reisen.
Wir erleben eine Zeit der überlappenden Krisen: Flüchtlinge, Energiemangel, Inflation, man weiss nicht, was Covid noch bringt … Wird Ihnen da als Bundespräsident angst und bange?
Es ist keine schöne Zeit für die Welt. Erst die Pandemie, dann der Krieg – wobei man gern all die anderen Kriege in Jemen, Syrien oder Afghanistan vergisst. Wir in Europa haben plötzlich entdeckt: Krieg existiert noch, und das betrifft uns. Und das genau am Tag, nachdem wir das Gefühl hatten, endlich ist die Pandemie beendet. Das löst auch in der Schweiz Krisenmüdigkeit aus. Der Bundesrat ist sich dessen bewusst. Und ich möchte betonten: Die Regierung ist da für das Land. Trotz aller Schwierigkeiten sind wir bereit, die besten Voraussetzungen zu schaffen, um auch diese Krise zu meistern.
Unklar ist beispielsweise, ob im Winter genug Strom da ist. Unterschätzt der Bundesrat die Lage?
Nein, der Bundesrat unterschätzt die Situation überhaupt nicht. Wir haben uns in den letzten Tagen stark mit dem Thema befasst, haben Pläne verabschiedet für die Energieversorgung und die Information der Bevölkerung. Der Bundesrat ist auf Kurs. Aber natürlich gibt es eine Unsicherheit. Und wir Schweizer tun uns mit Unsicherheit schwer.
Aber warum ruft der Bundesrat nicht wie zum Beispiel Deutschland eindringlich zum Stromsparen auf?
Weil die Schweiz nicht Deutschland ist und wir eine andere Ausgangslage haben.
Blackouts könnte es aber auch geben.
Im Moment ist die Wahrscheinlichkeit eines Blackouts minim klein. Man kann durchaus sagen, dass uns die Energie-, vor allem die Gasversorgung Sorgen macht. Die Schweiz hat aber auch Strom aus Wasserkraft und Kernenergie, wir sind wenig von fossilen Energieträgern abhängig. Aber unsere Stromversorgung ist von den Nachbarländern abhängig. Wenn es denen nicht gut geht, geht es uns auch nicht gut.
Zurück nach Lugano. Sie haben mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesprochen. Worum ging es?
Es ging um die Wiederaufbaukonferenz und die Rolle der Europäischen Union sowie die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsbanken, den USA, Grossbritannien und der Nato.
Die Schweizer Beziehung zur EU war kein Thema?
Nein, wir waren ja auch zu dritt mit dem ukrainischen Premier Denis Schmihal – und den interessiert dieses Thema nicht.
News gibt es ja schon. Gewerkschaftschef Adrian Wüthrich hat im Blick gesagt, er sei zu Kompromissen bereit: fünf statt acht Tage Meldefrist für ausländische Firmen. Kann das ein Durchbruch sein?
Ich habe mit Befriedigung gelesen, dass nun auch die Gewerkschaften eine gewisse Offenheit zeigen, kreativ zu werden. Danach habe ich schon vor drei Jahren gefragt. Ich glaube, nur so können wir uns zu einer Lösung kommen. Wenn sich alle darauf beschränken, dem Bundesrat Briefe zu schreiben, sind sie Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.