Schon am Montagabend ist die Stimmung in Lugano TI sichtlich gelöst. Ukrainerinnen, Wirtschaftsvertreter und Journalisten tanzen auf der Piazza Alessandro Manzoni zu den energetischen Klängen der ukrainischen Folk-Band Dakhabrakha.
«Sind die nicht irre toll?», fragt EDA-Sonderbeauftragter Simon Pidoux (49). Der Organisations-Chef des Ukraine-Gipfels ist stolz: «Haben wir extra hergeholt!» Er hält ein Bier in der Hand und strahlt. Damit ist klar: Der anstrengendste Teil der Ukraine Recovery Conference ist bereits vorbei.
Am Dienstagvormittag dann ist Erntezeit. Die Teilnehmenden des Ukraine-Gipfels verlesen Statements. Unter anderem verspricht die Schweiz, ihre Hilfe zu verdoppeln – bis Ende 2023 sollen 100 Millionen Franken nach Kiew fliessen.
Anschliessend wird das Herzstück des Ukraine-Gipfels enthüllt: die «Lugano-Deklaration». Bundespräsident Ignazio Cassis (61) und Ukraines Ministerpräsident Denis Schmihal (46) präsentieren die Erklärung gemeinsam.
Wiederaufbau nach sieben «Lugano-Prinzipien»
In der Lugano-Deklaration sichern die Konferenzteilnehmer aus mehr als 40 Ländern der Ukraine volle Unterstützung beim Wiederaufbau zu und bekräftigen, dass Integrität, Transparenz und Rechenschaftspflicht für den Erfolg des Wiederaufbaus unerlässlich seien. Nach sieben Prinzipien soll der Wiederaufbau stattfinden: 1. Partnerschaft, 2. Reformen 3. Transparenz und Recht 4. Demokratie 5. Multi-Stakeholder Engagement 6. Geschlechtergleichheit und Inklusion 7. Nachhaltigkeit.
«Ein Konsensdokument. Nichts davon hat mich überrascht», sagt Ukraine-Experte Benno Zogg (32) zu Blick. Gestritten wurde nach Blick-Informationen vor allem um konkrete Formulierungen.
Das fehlt in der Erklärung von Lugano
Im Vergleich zum Entwurf, über den SonntagsBlick zuerst berichtete, wurde etwa das Reform-Prinzip um den Satz ergänzt, dass alle Wiederaufbau-Gelder «fair und transparent» eingesetzt werden müssten – ein klares Signal der Teilnehmenden, mit der finanziellen Hilfe keinesfalls Korruption befeuern zu wollen.
Was allerdings fehlt, sind konkrete Zahlen. Die Ukraine rechnet mit 750 Milliarden Euro für den Wiederaufbau. Das Geld dafür soll auch aus den eingefrorenen Vermögen von Oligarchen und Putin-Unterstützern kommen – weltweit bereits 300 bis 500 Milliarden Dollar. Bis zu neun Milliarden davon hierzulande. «Der Aggressor muss für den Schaden zahlen, damit auch niemand anders auf die Idee kommt, dass sich eine Invasion lohnt», sagte Ukraines Ministerpräsident Denis Schmihal am Dienstagmittag in Lugano.
Doch genau diesem sehnlichsten Wunsch der Ukrainer erteilt Bundespräsident Cassis erst mal eine Absage. Für ihn ist aus politischer und rechtlicher Sicht unklar, ob in der Schweiz eingefrorene Vermögen von Oligarchen und Putin-Unterstützern für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet werden können.
Cassis: «Das ist kein Schönheitswettbewerb»
«Das Recht auf Besitz ist ein Menschenrecht, das können wir nicht einfach aushebeln», sagte Cassis bei der Abschluss-Pressekonferenz zu Blick. Die Erfüllung der Wünsche der Ukraine sei «kein Schönheitswettbewerb». Man müsse sicherstellen, dass auch die Rechte der Russinnen und Russen gewahrt würden.
«Klar können wir auch so ein Recht verletzen. Wir haben das bereits mit dem Einfrieren der Vermögen getan. Für die externe Verwendung aber müssen wir erst die rechtliche Grundlage schaffen», so Cassis weiter. Für ihn ginge es auch um «Verhältnismässigkeit». Der sehnlichste Ukraine-Wunsch sei damit «eine offene Frage».
Maria Mezentseva (32) sieht das anders. «Es wäre ein mächtiges Instrument, um unsere Ausgaben zu decken. Natürlich muss das auf EU-Level geklärt werden und Betroffene könnten es vor Gericht anfechten, aber das liegt dann bei den Anwälten», sagt die ukrainische Abgeordnete zu Blick.
Sie ist froh, die weite und anstrengende Reise nach Lugano auf sich genommen zu haben. «Auf einem Bildschirm in der Empfangshalle hat ein kurzer Film in Dauerschleife Fotos von unserem Alltag und den Folgen von Russlands Invasion gezeigt.» Andere Teilnehmende seien vor dem Horror erstarrt. Sie hätten dank der Konferenz begriffen: Es gehe nicht nur um die Ukraine – sondern um die gemeinsamen europäischen Werte.
Für euch dabei: Von der Ankunft der ukrainischen Delegation bis zur Unterzeichnung der Lugano-Deklaration. Vom Ukraine-Gipfel in Lugano berichten für Blick die Live-Reporter Rebecca Spring und Pascal Scheiber sowie Auslandsredaktorin Fabienne Kinzelmann und Tessin-Korrespondentin Myrte Müller.
Für euch dabei: Von der Ankunft der ukrainischen Delegation bis zur Unterzeichnung der Lugano-Deklaration. Vom Ukraine-Gipfel in Lugano berichten für Blick die Live-Reporter Rebecca Spring und Pascal Scheiber sowie Auslandsredaktorin Fabienne Kinzelmann und Tessin-Korrespondentin Myrte Müller.