Schweiz schlägt die Türe für Verwundete aus der Ukraine zu – Politiker sind empört
«Ab wann wird Neutralität unanständig?»

Dass die Schweiz keine verletzten Ukrainer versorgen will, führt unter Politikern zu Kopfschütteln. Lediglich die SVP hat Verständnis für die ablehnende Haltung des Aussendepartements von Bundesrat Ignazio Cassis.
Publiziert: 18.07.2022 um 19:47 Uhr
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Pflegende kümmern sich um Verletzte im Spital in Winnyzja, gut 200 Kilometer südwestlich von Kiew.
Foto: keystone-sda.ch
Daniel Ballmer und Sophie Reinhardt

Die Schweiz will aus Neutralitätsgründen keine verletzten Ukrainer in ihren Spitälern aufnehmen. Das machte der «Tages-Anzeiger» in seiner heutigen Ausgabe publik. Die Ukraine hat verschiedene Staaten angefragt, ob sie Patientinnen und Patienten aufnehmen können, weil die Spitäler im kriegsversehrten Land überlastet sind und viele medizinische Einrichtungen zerstört wurden.

Mitte Juni hielt das Aussendepartement (EDA) in einer Stellungnahme fest, dass es die Aufnahme aus juristischen sowie praktischen Gründen ablehne. Das Departement des gelernten Arztes Ignazio Cassis (61) argumentiert, die Genfer Konventionen schrieben neutralen Staaten vor sicherzustellen, dass behandelte Soldaten nach ihrer Genesung «nicht mehr an Kriegshandlungen teilnehmen können». Es sei aber für die Schweiz fast unmöglich, Zivilisten von Soldaten zu unterscheiden, so das EDA.

Zahlreiche Politikerinnen und Politiker haben kein Verständnis für die ablehnende Haltung des Aussendepartements. So twittert etwa Mitte-Präsident Gerhard Pfister (59): «Ab wann wird Neutralität unanständig? Im heutigen ‹Tages-Anzeiger› hat das Aussendepartement eine Antwort geliefert.»

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Auch Mitte-Ständerätin Andrea Gmür-Schönenberger (58) sagt: «Verletzten Menschen ist ohne Wenn und Aber zu helfen.» Es sei für sie eine Selbstverständlichkeit, dass mindestens verletzte Frauen und Kinder aus der Ukraine in der Schweiz aufgenommen werden müssten. «Ich hätte aber auch kein Problem damit, wenn wir auch verletzte Russen aufnehmen würden.»

Kindern und Frauen helfen

«Wir distanzieren uns von unserer eigenen humanitären Tradition», befürchtet Aussenpolitikerin Sibel Arslan (42, Grüne) gar. Sie werde den «unverständlichen Entscheid» in der Aussenpolitischen Kommission sicher ansprechen. Es müsse für die Schweiz möglich sein, mindestens Zivilisten wie Kinder oder Krebskranke hier bei uns zu pflegen, so Arslan.

Letzterem pflichtet sogar FDP-Ständerat Andrea Caroni (42) bei. Dass man sich bei Militärpersonal aus Neutralitätsgründen aber zurückhaltend zeige, könne er nachvollziehen. «Die Schweiz kann nicht verletzte Soldaten wieder aufpäppeln und zurück an die Front schicken, das verbietet das Neutralitätsrecht», so Jurist und Parteivize Caroni.

«Vor Ort helfen ist sinnvoller»

Bei der SVP hält man den Entscheid des Aussendepartements dagegen für richtig. «Die Nato-Länder wollen uns in den Krieg involvieren, das zeigt auch diese Anfrage», so Nationalrat Roland Rino Büchel (56). Es sei daher begrüssenswert, dass die Anfrage abgelehnt worden sei. «Es ist sowieso viel sinnvoller, vor Ort zu helfen, als einige wenige Verletzte in der Schweiz zu behandeln», so der SVPler.

Die Schweiz unterstütze Rehabilitationsmassnahmen für verletzte Personen bereits in den ukrainischen Hauptspitälern von Lwiw, Sumy und Tschernihiw, und stellt Behandlungsgeräte bereit oder bildet Physiotherapeuten in der Ukraine aus.

Kantone hätten Verletzte aufgenommen

Selbst die Kantone wären bereit gewesen, Verletzte aufzunehmen. Der Vorstand der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) «signalisierte an seiner Sitzung vom 19. Mai grundsätzlich Offenheit für die Übernahme durch die Kantone beziehungsweise die Spitäler», sagte Lukas Engelberger, der GDK-Präsident gegenüber dem «Tages-Anzeiger». Aus humanitärer Perspektive wäre die Aufnahme von Zivilpersonen aus Sicht der GDK gar wünschenswert gewesen.

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