Im Aargau gehen die Kinder wieder zur Schule, und nächste Woche startet der Unterricht in vielen weiteren Kantonen. Fast überall ohne Masken und vielerorts ohne regelmässige Tests. Und dies bei steigenden Corona-Zahlen. Susi Kriemler (60) macht diese Ausgangslage Sorgen. Die zweifache Mutter ist Kinderärztin, Epidemiologin und Projektleiterin am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich. Sie hat die Ciao-Corona-Studie geleitet, in der rund 2500 Zürcher Schulkinder auf Antikörper getestet wurden. Diese wurden bei jedem fünften Kind festgestellt.
Blick: Frau Kriemler, nächste Woche ist vielerorts Schulbeginn. Droht nun die vierte Welle in den Klassenzimmern?
Susi Kriemler: Wie gefährlich die Situation in den Schulen ist, ist schwierig zu beurteilen. Viele Erwachsene sind zwar geimpft, doch es gibt viele Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Delta-Variante. Unklar ist auch, wie sich die Rückkehr der Ferienreisenden in den Klassen auswirkt. Die bisherigen Massnahmen haben gut funktioniert. Deshalb sollte man vorsichtig damit sein, diese über Bord zu werfen. Dazu gehört auch das Maskentragen.
Der Bund hat die Maskenpflicht an der Schule kurz vor den Sommerferien aufgehoben. Die meisten Kantone verzichten nun auf diese.
Ich persönlich erachte die Aufhebung der Maskenpflicht als einen Fehler. Mit Abstandhalten, Hygienemassnahmen und Maskentragen sind wir gut gefahren. Behalten wir diese bei, verlieren wir nichts. Gerade das Maskentragen ist eine machbare Massnahme, die unter anderem mithilft, schwere Erkrankungen bei Kindern zu verhindern. Die meisten Kinder haben auch kein Problem damit. Ich würde die Maskenpflicht noch ein paar Monate beibehalten. Bis die Situation klarer ist.
Die Krankheitslast bei Kindern ist doch gering, da könnte man eine Durchseuchung in Kauf nehmen.
Eine Durchseuchung der Kinder kommt für mich aus ethischen und gesundheitlichen Gründen nicht in Frage. Insgesamt gesehen ist die Krankheitslast bei den meisten Kindern zwar gering. Es gibt aber einen relevanten Anteil an Kindern, die schwer an Covid erkranken. Das Entzündungssyndrom Pims ist eine dramatische Erkrankung, auch wenn es nur wenige trifft. Und es gibt auch Fälle von Long Covid – mit Kopf- und Muskelschmerzen, Müdigkeitserscheinungen, Konzentrationsstörungen usw. Auch wenn nur wenige Prozent betroffen sind, sollten wir diese Kinder schützen. Gerade weil sich die jüngeren Kinder noch nicht impfen lassen können.
Impfen lassen können sich aber die Lehrpersonen. Braucht es für diese eine Impfpflicht?
Kinder werden meistens von Erwachsenen mit Corona infiziert. Jede ungeimpfte Lehrperson ist daher für Kinder ein potenzielles Risiko. Nimmt eine Lehrperson ihre Verantwortung gegenüber ihren Schützlingen wahr, lässt sie sich impfen. Gerade dann, wenn sich die Kinder noch nicht impfen lassen können. Ich sehe aber auch Eltern und Verwandte in der Pflicht. Man kann nicht nur auf seine persönliche Freiheit pochen, es gibt auch eine kollektive Verantwortung. Einen Impfzwang lehne ich aber ab.
Für den Bundesrat steht das repetitive Testen in Fokus, doch viele Kantone halten sich da zurück. Macht eine breite Testkampagne Sinn?
Da braucht es eine sorgfältige Abwägung, ob die Last für die Kinder nicht grösser ist, da meist nur wenige Fälle entdeckt werden. Dies zeigen Zahlen aus mehreren Kantonen, die Massentests schon vor den Sommerferien eingeführt haben. Angesichts vieler Ferienrückkehrer ist es aber sicher nicht falsch, während der ersten ein, zwei Wochen zu testen, um die Infizierten rauszufiltern.
Zur Debatte steht auch der Einsatz von CO2-Messgeräten und Luftfiltern.
Der Einbau von Filtern ist zwar sehr sinnvoll, aber auch aufwendig. Das würde wohl zu lange dauern. Eine gute Alternative sind daher CO2-Messgeräte, die anzeigen, wann gelüftet werden muss. Das wäre eine relativ günstige Massnahme, die die Schulen ohne grossen Aufwand einsetzen könnten.