Kein Befreiungsschlag für Cassis
Beim EU-Dossier treffen die Super League und Grümpelturnier aufeinander

Es hätte ein Schritt vorwärts sein können in der EU-Debatte. Doch knapp zwei Wochen nach Bekanntgabe des EU-Deals zeigt sich: Dem Bundesrat ist kein Befreiungsschlag geglückt. Blick analysiert.
Publiziert: 31.12.2024 um 14:57 Uhr
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Aktualisiert: 31.12.2024 um 15:01 Uhr
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Am 20. Dezember stellte der Bundesrat das Verhandlungsergebnis vor. Um den Verhandlungsabschluss zu feiern, reiste EU-Ratspräsidentin Ursula von der Leyen (66) zu Bundespräsidentin Viola Amherd (62) in die Schweiz.
Foto: ALESSANDRO DELLA VALLE
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Lucien FluriCo-Ressortleiter Politik

Klarheit. Endlich mehr Klarheit und ein Schritt vorwärts. Das war die Erwartung an den 20. Dezember. Den Tag, als der Bundesrat endlich sein Verhandlungsergebnis zum neuen Vertrag mit der EU vorstellte. 

Bald zwei Wochen ist es jetzt her. Und längst ist absehbar: Dies war kein Befreiungsschlag, den grossen Schritt vorwärts gab es nicht. Und das, obwohl der Bundesrat gar nicht so schlecht verhandelt hat. 

Offensichtlich ist: Was Bern mit Brüssel verhandelt hat, spielt in diesem Stück nur eine Nebenrolle. Der «EU-Deal» ist mehr Innen- als Aussenpolitik. Und dort stockt es nach wie vor gewaltig. Statt vorwärts heisst es: Treten an Ort. 

Zwar will niemand aus dem Lager der potenziellen Befürworter das Ergebnis zerreden. FDP und Mitte heben hervor, dass das Abkommen besser sei als das letzte. Sie tun dies so pflichtschuldig wie uninspiriert. Das sagt relativ viel aus.

Niemand hat Maillard im Griff, aber er alle

Noch bezeichnender ist, was im linken Lager passiert: Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard weiss, wie wichtig sein Ja ist. Und dass er in der aktuellen Lage dank seiner faktischen Vetomacht nun noch sehr viel herausschlagen kann. Fast schon schamlos versucht Maillard, alles aus der Zitrone herauszupressen. Dabei pokert er hoch, sehr hoch sogar. Das Scheitern nimmt er als Kollateralschaden in Kauf. Die SP-Spitze? Sie lässt Maillard nahe am Abgrund zocken. Niemand beendet das Hochrisiko-Spiel, niemand ruft den Einzelkämpfer zurück.

Die Situation ist inzwischen absurd. Der EU-Deal ist eines der wichtigsten Politdossiers der Schweiz, sowohl innen- als auch aussenpolitisch. Weil ein Ja oder ein Nein unser Selbstverständnis als Land im Innersten trifft. Weil die Schweiz nun mal mitten in Europa liegt, weil es aus der Wirtschaft und der Wissenschaft den Ruf nach den Abkommen gibt. Aber kein Politiker will derzeit gross für das Abkommen weibeln. Es gibt beim EU-Dossier ein riesiges Führungsvakuum im Befürworter-Lager.

Ganz anders ist dies auf der Seite der Gegner. Dort sind die Profis am Werk, vergleichbar mit einem Super-League-Team: Sie können auf mächtige Sponsoren im Hintergrund zählen. Sie haben Top-Spieler wie Thomas Aeschi oder Magdalena Martullo oder den alten Routinier Christoph Blocher. Diese haben sich seit Monaten vorbereitet. Sie liessen keine Gelegenheit aus, zu sticheln und bei Chancen abzudrücken. 

Wo sind eigentlich die Top-Leute der Befürworter?

Aber wer spielt denn eigentlich auf der Seite der Befürworter? Gibt es eine Mannschaft? Einige Einzelkämpfer versuchen, ein Team aufzustellen. Aber es wirkt wie vor dem Grümpelturnier, wo man noch einige Spieler in letzter Minute ausgraben muss. Eine konstante Aufstellung gibt es nicht.

Gewichtige Top-Spieler fehlen (noch). Gerhard Pfister und Thierry Burkart, die Präsidenten von Mitte und FDP, haben es sich auf den Zuschauerrängen bequem gemacht und schauen demonstrativ zu. Die FDP nimmt sich nun Monate Zeit, um das Dossier zu studieren, bevor sie eine Antwort geben will. Sie lässt ihren eigenen Aussenminister im Regen stehen. Kann Cassis seine Partei nicht motivieren oder will er nicht? Sollte er für sein Abkommen brennen, hat er das am 20. Dezember jedenfalls gut versteckt. Der Auftritt des Tessiners war mässig inspiriert. 

Wenn der EU-Deal eine Chance haben soll, muss der Bundesrat dem Abkommen eine Perspektive geben: Es braucht rasch innenpolitische Erklärungen und Massnahmen, die berechtigte Anliegen und Ängste kontern. Solche, die etwa im Rahmen der SVP-Initiative zur 10-Millionen-Schweiz geäussert werden. Dazu muss Cassis vom Aussenminister zum Innenpolitiker werden. Und es braucht den ganzen Bundesrat. Wenn er sein EU-Paket ins Ziel bringen will, muss 2025 durch diesen Bundesrat ein gewaltiger Ruck gehen. 

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