Seit Monaten ist das Coronavirus ein Teil des Alltags. Doch was ist hinter den Kulissen passiert, während das Virus in der Schweiz wütete? Das SonntagsBlick Magazin hat Dutzende Protokolle aus den Führungsgremien des Bundes eingesehen und mit Beteiligten gesprochen. Die Chronologie zeigt: Bereits im Januar gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Kantonen. Die medizinische Versorgungslage präsentierte sich prekär. Und ein Ende ist kaum absehbar.
31. Januar – Erste Diskussion zwischen Bund und Kantonen
Seit einem Monat wütet das Coronavirus in China, hinter vorgehaltener Hand hoffen die Behörden darauf, dass das Virus den Weg nach Europa nie finden wird. Zwar beginnen in der Schweiz erste Vorbereitungen, doch die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen will nicht anlaufen. Die Elektronische Lagedarstellung (ELD), die Schnittstelle zum Austausch von Informationen zwischen Bund und Kantonen, ist noch nicht aktiviert. Vertreter des BAG begründen: Für die kantonalen Behörden gebe es «noch keine relevanten Informationen». Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) interveniert. Die Behörden bräuchten Informationen, um Vorbereitungen treffen zu können. Schliesslich entscheidet der Vorsitzende der Direktorenkonferenz des Bundesstabs für Bevölkerungsschutz (BSTB), eines der wichtigsten Gremien im Krisenverlauf, die ELD in Kraft zu setzen. «Es gab leise Anzeichen, dass noch nicht alles so funktioniert, wie wir uns das gewünscht haben», meint ein Anwesender. Konkrete Beschlüsse werden an der Sitzung nicht gefällt.
24. Februar – Die erste Eskalationsstufe
Die internationale Lage spitzt sich zu, in Norditalien droht die Lage zu eskalieren – 50’000 Menschen werden in der Lombardei von der Aussenwelt abgeriegelt. Die Schweiz verzeichnet zwar noch keine Fälle, allen Beteiligten ist aber klar: Der Übergriff des Virus ist nur eine Frage der Zeit. In einer ausserordentlichen Sitzung am Montagabend kommen die Direktoren der Bundesbehörden zusammen. Es fehlt an Schutzmaterial – vor allem an Masken. Das BABS stellt den Kantonen einen Notvorrat von knapp 400’000 Stück zur Verfügung. «Es war klar, dass die Masken maximal einen Monat reichen – und dann? Unser Eindruck war, dass die Kantone nicht gut vorgesorgt haben», erzählt ein Insider. Die Gesundheitsdirektorenkonferenz bringt erstmals die Frage nach Schliessungen auf – das BAG rät davon ab. Auch die Armee ist das erste Mal involviert. Im Protokoll heisst es: «Die Armee setzt alles daran, im Rahmen ihrer Mittel die zivile Bevölkerung zu unterstützen, wo möglich sofort und ohne Bundesratsbeschluss.»
Nur einen Tag später wird im Kanton Tessin erstmals eine Person positiv auf das Virus getestet. BAG-Direktor Pascal Strupler und «Mister Corona» Daniel Koch treten am Abend vor die Medien, versuchen, die Bevölkerung zu beruhigen. Doch die Lage ist zu diesem Zeitpunkt bereits ausser Kontrolle geraten. Für den 28. Februar wird eine geheime Sitzung einberufen. Nach mehreren Stunden Besprechung tritt der Bundesrat vor die Medien und ruft die besondere Lage aus. Damit erhält die Landesregierung weitreichende Kompetenzen. Grosse Veranstaltungen über 1000 Personen werden verboten.
2. März – Es fehlt an allen Ecken und Enden
Nun verändert sich die Lage in der Schweiz rapide. Der Bundesstab für Bevölkerungsschutz tritt wöchentlich zusammen. Innerhalb der Bundesämter beginnen Diskussionen: Es fehlt an Koordination und Informationen. Die Zollverwaltung bringt in einer Sitzung mit dem BAG die Thematik verstärkter Grenzkontrollen auf. Am 4. März treffen sich die Kantonsvertreter, debattieren über mögliche Massnahmen. Das Tessin, in einem Lageprotokoll des Bundes als «Hotspot» eingestuft, plädiert für eine Grenzschliessung. Die Kantone Zürich und Schaffhausen stellen sich dagegen. Drei Tage später stirbt im Kanton Waadt erstmals eine Person am Coronavirus.
9. März – Die Woche der langen Nächte
In einer kurzfristig einberufenen Sitzung mit den kantonalen Gesundheitsvertretern zeigt sich: Der Wunsch nach einheitlichen Lösungen ist gross, der Bundesrat greift ein. Schulen werden geschlossen und die Grenzen nach Italien kontrolliert. Am 15. März werden erstmals über 1000 Neuinfektionen gemessen, vier Kantone rufen in der Folge den Notstand aus. Am Sonntagabend kommt der Bundesrat zusammen. Der Lockdown wird beschlossen, die entsprechenden Verordnungen werden ausgearbeitet. «Es war eine Nacht, in der viele Leute in den Departementen durchgearbeitet haben», wird sich Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga später erinnern.
16. März – Die Schweiz im Stillstand
Für den Nachmittag des 16. März ist eine weitere Bundesratssitzung einberufen. In einer Stabskonferenz um 10 Uhr morgens werden die Behörden und Kantone informiert, dass der Bundesrat am Nachmittag den Lockdown ausrufen wird. Auch die Armee wird mobilisiert. Zwei Stunden lang diskutieren die Behördenvertreter über die konkreten Umsetzungen. Es wird informiert, «dass Masken und Desinfektionsmittel in den Ämtern gehortet werden». Der Vorsitzende der Konferenz ruft zur Vernunft auf und bittet, das Schutzmaterial zur Verfügung zu stellen – daraufhin werden rund eine Million Masken innerhalb der Behörden gesammelt, wie die «SonntagsZeitung» aufdeckte. Kurz nach Mittag tritt der Bundesrat zusammen, um die Beschlüsse zu diskutieren und zu verabschieden. Um 17 Uhr verkündet Bundespräsidentin Sommaruga den Lockdown. Die Schweiz zieht die Notbremse.
23. März – Angst um die medizinische Versorgung
Die Armee stemmt sich gegen das Versammlungsverbot von mehr als fünf Personen und fordert, dass diese Regelung für die Soldaten aufgehoben werde. Das Bundesamt für Polizei interveniert: «Grundsätzlich werden keine Ausnahmen geduldet», heisst es im Sitzungsprotokoll. Der Vorsitzende des Bundesstabs entgegnet dem Antrag der Armee: «Die Schweiz befindet sich (...) nicht im Krieg, sie hat eine Pandemie zu bewältigen. Somit muss auch die Armee den Anweisungen des BAG Folge leisten und die vom BR angeordneten Massnahmen umsetzen.»
Für Angst sorgt ein möglicher Engpass bei medizinischem Schutzmaterial. Der koordinierte Sanitätsdienst SANKO, der seit dem 20. März für die Beschaffung von Schutzmaterial in der Schweiz verantwortlich ist, teilt in einem Schreiben an die Ämter mit: «Es wird festgestellt, dass verschiedene Bedarfsträger ihre Gesuche mehrfach stellen, teilweise sogar unter verschiedenen Namen, wohl in der Hoffnung, dass sie so Vorrang in der Bearbeitung erhalten.»
30. März – Die medizinische Versorgung spitzt sich zu
Die Angst um einen Engpass in der medizinischen Versorgung ist begründet. Die Arbeit verläuft chaotisch. Der Generalsekretär des Innendepartements meint in einer Krisenstabssitzung: «Es fehlt an Produkten, an einer Gesamtübersicht und einer Koordination der Beschaffung wichtiger medizinischer Güter.» Ein Beteiligter erzählt: «Die Geschichten, wonach andere Länder Flugzeuge mit Schutzmaterial am Flughafen stoppten, waren nicht erfunden. Das hat für starke Verunsicherung gesorgt.»
Der Kampf um Schutzmaterial und Tests läuft nun nicht nur zwischen den Kantonen und Spitälern, sondern auch innerhalb des Bundes. In der Direktorenkonferenz weist die Zollverwaltung darauf hin, dass Mitarbeitenden ein angefragter Corona-Test verweigert wurde. Es folgt ein Antrag zur Triagierung der knappen Testkapazitäten: «In dringenden Verdachtsfällen ist das Personal der EZV, Polizei und von anderen Blaulichtorganisationen mit einer angemessenen Priorität in Bezug auf die Durchführung von Tests zu behandeln.»
20. April – Heisse Diskussionen um den Exit
Einen Monat lang befindet sich die Schweiz im Stillstand. Lockdown. Bis am 16. April Bundespräsidentin Sommaruga erste Lockerungsschritte bekannt gibt. Szenarien zum Ausstieg aus der ausserordentlichen Lage werden von den Behörden bereits in den Tagen zuvor erarbeitet – allerdings nur im kleinsten Rahmen. Jetzt zeigt sich: Viele Stellen und Behörden wussten von den Plänen des Bundesrats nicht vorgängig Bescheid, so etwa das Polizeidepartement. Die Zollverwaltung EZV bleibt ebenfalls aussen vor. In einer Direktorensitzung entflammt am 20. April eine heftige Diskussion zwischen den Kantonen und dem Bundesstab für Bevölkerungsschutz. «Der Vertreter EZV bringt sein Missfallen über die Situation deutlich zum Ausdruck», heisst es im Protokoll. Das BAG wird in die Pflicht genommen, um mit den Kantonen mögliche Ausstiegsszenarien zu erarbeiten. In den Tagen danach beschäftigen sich zahlreiche Arbeitsgruppen mit dem ersten Lockerungsschritt und versuchen, alle Behörden und die Kantone auf die gleiche Seite zu bringen. Das gelingt nur teilweise, wie die kommenden Wochen zeigen – bis heute sind viele Fragen ungeklärt.
Während sich die Versorgungslage beim Schutzmaterial leicht entspannt, fehlt es nun vor allem an Narkotika. Die Spitäler stehen unter Druck: Per 27. April sollen wieder planbare Operationen durchgeführt werden, die wegen der Pandemie verschoben werden mussten. Beim Krisenstab des Bundes stossen die Spitäler allerdings auf taube Ohren. «Der Leiter KSBC betont, dass die Bereitstellung dieser Ressourcen, die über COVID-19 hinausgehen, nicht Aufgabe des Bundes sei. Die Verantwortung liege dazu bei den Spitälern.»
27. April – Die Schweiz erwacht
Am 27. April atmet die Schweiz auf. Erste Geschäfte dürfen wieder öffnen – und werden überrannt. Die Einhaltung der Schutzkonzepte gestaltet sich schwierig, zudem verlaufen die Kontrollen je nach Kanton unterschiedlich. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz stellt klar: «Das Monitoring der Schutzkonzepte während der Lockerung von Massnahmen wird eine grosse Herausforderung darstellen.»
Dafür hat sich die Lage bei der Beschaffung von Masken stark verbessert. Nun lancieren die Behörden einen Massenverkauf – allerdings nur mit gewissen Händlern. Das sorgt für Unverständnis, auch innerhalb der Direktorenkonferenz. Die kantonale Führungsorganisation KFO schaltet sich ein: «Der Bund hat mit ‹führenden Detailhändlern› (nach unseren Informationen sind dies die Grossverteiler Migros, Coop, Landi und Volg) vereinbart, dass diese im Auftrag des Bundes Hygienemasken an die Bevölkerung verkaufen.» Die KFO will wissen, wer dies bestimmt habe. Der Leiter der Taskforce entgegnet, die Grossverteiler hätten sich wegen ihrer Reichweite angeboten. «Wichtig ist, dass mit diesen Masken keine Gewinne erzielt werden dürfen, es besteht somit kein Wettbewerbsvorteil für Grossverteiler.» Die Masken müssten zum Selbstkostenpreis verkauft werden. Diese Aussage sorgt für Verwirrung, denn: Auch die Kantone kaufen beim Bund ihre Masken ein. Rund 21 Millionen Stück verteilt die Armeeapotheke bei den Kantonen – zu noch unbekannten Preisen. Die KFO will wissen, wie die Armeeapotheke den Händlern Masken zu einem fixen Preis verkaufen, den Kantonen aber keine Kosten nennen könne. Die Armeeapotheke verspricht, die Pendenzen zu klären.
4. Mai – Die Disziplin lässt nach
Mittlerweile hat ein Grossteil der Bevölkerung genug von den Restriktionen. In einem bundesweiten Lagebericht heisst es: «Die Disziplin zur Einhaltung der bundesrätlichen Massnahmen nimmt erkennbar ab.» Erneut flammen Diskussionen zwischen den Kantonen und dem Bund bezüglich der fehlenden Informationsflüsse auf. «Die Polizeikorps wollen nicht erst aus den Medien erfahren, welche Massnahmen neu gelten, um diese dann in ihrer Kompetenz umsetzen zu müssen», beschweren sich Polizeivertreter.
In Vorbereitung auf einen möglichen Wiederanstieg der Zahlen nimmt das BAG die Spitäler in die Pflicht. Die Gesundheitsinstitutionen sollen «ihre Lager auf einen Zeithorizont von 40 Tage aufstocken».
27. Mai – Ein Ende trotz Fragen
Erneut tritt der Bundesrat vor die Medien, am 27. Mai gibt er das Ende der ausserordentlichen Lage per 19. Juni bekannt. Bereits ab dem 6. Juni werden die Massnahmen weitestgehend gelockert, nur Veranstaltungen über 1000 Personen bleiben verboten. Bei einer Sitzung der Departementsvorsteher gibt das Amt für Polizei die ernüchternde Bilanz ab: «Die Durchsetzung der Vorgaben bei (nicht bewilligten) und grösseren Demonstrationen ist polizeilich nicht mehr möglich.»
8. Juni – Nach dem Ende ist vor dem Anfang
Die Behörden beginnen nun mit der Vorbereitung auf eine zweite Welle. In der Direktorenkonferenz erklärt der Bundesstab für Bevölkerungsschutz zwar, dass die vom Bundesrat getroffenen Massnahmen erfolgreich gewesen seien, allerdings sei «es schwierig, wenn nicht unmöglich festzulegen, welche Massnahmen was bewirkt haben». Die Behörden tappen im Dunkeln. Ist es das Veranstaltungsverbot? Der Lockdown? Am 19. Juni beendet der Bundesrat die ausserordentliche Lage.
25. Juni – Wie weiter?
Durch die Ungewissheit und die vieldeutigen Aussagen bestärkt, vollziehen die Kantone Ende Juni eine Kehrtwende. Die Einigkeit, die wegen der ausserordentlichen Lage hin nach aussen demonstriert wurde, ist verschwunden. Einen Monat lang sieht der Bund zu, dann greift er ein: Am 1. Juli gibt der Bundesrat bekannt, dass eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr eingeführt werde. Als das BAG Ende Juli allerdings weitere Empfehlungen ausspricht, stemmen sich die Kantone dagegen: Man wisse, was zu tun sei, es brauche keinen Weckruf, meint Basels oberster Gesundheitsdirektor Lukas Engelberger. In welche Richtung sich die Situation entwickeln wird, entscheidet sich die kommende Woche. An einem Austausch Anfang Juli kündigte das BAG gegenüber den Kantonen an: «Die Koordination durch das BAG wird intensiviert.»
Mitte Juli kehrt vorübergehend Ruhe ein, die Sommerferien stehen an. Doch die Fallzahlen steigen, diese Woche erst wurden erstmals seit Ende April mehr als 300 positive Tests an einem Tag gemeldet. In Bern herrsche «höchste Alarmbereitschaft», sagt eine bundesinterne Quelle. Die Corona-Krise, sie ist auch nach Monaten noch nicht vorbei.
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
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