Im Grunde ist es erstaunlich, wie gut die Kantone das Problem bisher unter dem Deckel halten konnten. Mehrere Personen, die Einsicht ins kantonale Contact Tracing haben, stellen nämlich fest: Das System funktioniert derzeit überhaupt nicht so, wie es sollte.
Den Gesundheitsdirektionen der einzelnen Kantone ist das wahrscheinlich bekannt – nur will es niemand öffentlich einräumen. Auch die beiden Insider, mit denen SonntagsBlick sprechen konnte, wollen sich aus Angst vor beruflichen Konsequenzen nur anonym äussern.
Hier die zentralen Kritikpunkte:
- Der Austausch über Kantonsgrenzen hinweg ist fehleranfällig. Für den Fall, dass ein Infizierter nicht in dem Kanton wohnt, in dem er arbeitet, gibt es kein institutionalisiertes Vorgehen – was dazu führen kann, dass sich gar kein Kanton um die Nachverfolgung der Kontakte kümmert. Selbst wenn alles richtig läuft, verlieren die Kantone wertvolle Zeit, da sie sich immer wieder absprechen müssen, wer für welche Abklärungen zuständig ist.
- Daten bleiben in den Labors liegen. In einzelnen Fällen kommt es vor, dass mehrere Tage vergehen, bis die Kantone durch die Labors von einem positiven Fall Kenntnis erhalten. In anderen Fällen melden Hausärzte Fälle gar nicht erst, weil ihnen der Aufwand zu gross ist.
- Das Prozedere ist oft umständlich. Die Kantone erhalten von Labors und Hausärzten Dokumente in verschiedenen Formaten: als von Hand ausgefülltes Formular, als Fax, als PDF; dabei sind die Daten teils nicht lesbar, teils fehlen Angaben. Auch die Passagierformulare der Airlines sind mitunter unleserlich. Die Daten müssen von den Contact Tracern selbst ins System eingegeben werden, was bei hohen Fallzahlen ein Problem darstellt.
- Einige IT-Systeme kommen an ihre Grenzen. Die Kantone arbeiten teils mit handgestrickten Systemen, die nicht für grosse Datenmengen geeignet und fehleranfällig sind. Je grösser die Fallzahlen, die eingegeben werden müssen, desto schneller kommen die Systeme an den Anschlag.
- Die Datenlage ist oft katastrophal. Kantone arbeiten beim Contact Tracing mit unterschiedlichen Tools, die untereinander nicht kompatibel sind und auf die der Bund keinen direkten Zugriff hat. Auch erhebt jeder Kanton unterschiedliche Daten dazu, wie und wo eine Ansteckung stattgefunden hat. Ohne diese Vergleichsmöglichkeiten bleibt unklar, welche Massnahmen bei weiter steigenden Fallzahlen sinnvoll wären.
- Auch Scham ist ein Problem: Manche Infizierte behaupten, niemanden kontaktiert zu haben, sie seien in den entscheidenden Tagen zu Hause geblieben – was oft nicht der Wahrheit entsprechen dürfte. Andere fürchten, dass sie wegen ihrer Infektion auf einer «schwarzen Liste» der Behörden landen (obwohl es solche Listen nicht gibt).
Das Fazit:
«So wie es heute läuft, schützt das Contact Tracing vor gar nichts», sagt einer der Insider. «Im Gegenteil: Es vermittelt der Politik und der Bevölkerung eine falsche Sicherheit, die es so nicht gibt.»
Derweil warnt der zweite Insider davor, wie fragil das derzeitige Gebilde ist: «Jetzt, wo die Ferien fertig und die Leute zurück sind, droht das System zusammenzubrechen.»
Die Gesundheitsdirektorenkonferenz verteidigt sich
Und was sagen die Kantone zu diesen Kritikpunkten? Auf Anfrage von SonntagsBlick nimmt die Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) Stellung zu den wichtigsten Punkten.
- Fehlendes zentrales IT-System: Die GDK weist darauf hin, dass 16 Kantone dieselbe Software nutzen, was gewisse Abläufe vereinfache. Dennoch sprechen sich die Gesundheitsdirektoren gegen ein einheitliches System aus: Dies würde «die bereits gut etablierten Abläufe» in den Kantonen beeinträchtigen.
- Uneinheitliche Datenerhebung: Derzeit ist eine nationale Datenbank im Aufbau, die per Ende September einsatzfähig sein soll. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollen alle Kantone dieselben Daten erheben, inklusive Infektionsort.
Die Gesundheitsdirektoren schränken jedoch ein: «Sind Contact Tracer zum Beispiel mit Sprachproblemen bei den Kontaktierten konfrontiert [...], können auch künftig nicht beliebig viele Daten erhoben werden. Hauptziel ist und bleibt, möglichst viele Infektionsketten zu unterbrechen.»
- Schwieriger Austausch über Kantonsgrenzen hinweg: Bei einem positiven Fall, der in die Zuständigkeit eines anderen Kantons falle, erfolge eine generelle Information via Telefon/SMS oder Mail, schreiben die Gesundheitsdirektoren, man tausche die Daten via gesicherte Mails oder andere gesicherte Kanäle. «Dies ist nicht als formalisiertes Protokoll festgehalten, sondern hat sich so eingespielt und bisher bewährt.»
Der oberste Digitalisierungsverantwortliche im Bundesamt für Gesundheit, Sang-Il Kim, meint im Hinblick auf die unterschiedlichen IT-Systeme: «Wie gut das Contact Tracing funktioniert, hängt nicht vom System ab – sondern von den Menschen, die das Interview führen.»
Zwar sei es nicht ideal, dass der Bund von den Kantonen derzeit einzig die Anzahl Fälle übermittelt bekomme, weitere Angaben wie der Ort der Ansteckung aber fehlten: «Wir sind froh, dass wir diese Daten demnächst erhalten.»
Tatsache sei aber auch, so der Digitalisierungsverantwortliche: «Die Pandemie wäre nicht komplett anders verlaufen, hätten wir diese Daten gehabt.»