Neugierig schütteln Kinder das Überraschungsei aus Schokolade. Ein lächelnder Hase wirbt für Nesquik-Kakao, und rotbackige Comicfiguren sausen für den Energydrink Red Bull durch die Lüfte. Solche Werbespots, so die Weltgesundheitsorganisation WHO, sind für Kinder ungeeignet. Ihre Vertreter fordern daher Einschränkungen beim Marketing für stark zucker- oder fetthaltige Lebensmittel, um Kinder zu schützen. Auch die Schweizer Behörden und der Bundesrat unterstützen diese Forderung. Dies löst in der Lebensmittelindustrie und im Handel Besorgnis aus.
In einem Entwurf im Rahmen der Änderung des Lebensmittelgesetzes, der der «Bilanz» vorliegt, soll der Bundesrat freie Hand bekommen, um das Marketing für als ungesund taxierte Lebensmittel von TV- oder Smartphone-Bildschirmen zu verbannen: «Der Bundesrat kann die Werbung für Lebensmittel für Kinder unter 13 Jahren einschränken, sofern die Lebensmittel spezifische Kriterien namentlich betreffend Fett-, Salz- oder Zuckergehalt auf der Grundlage von international oder national anerkannten Ernährungsempfehlungen nicht erfüllen.» Der Gesetzesentwurf stammt aus einer Befragung von Infras. Das Forschungsinstitut interviewte vor einigen Monaten im Auftrag des Bundes Industrievertreter, Händler, Verbände und Organisationen wie den Konsumentenschutz zu ihren Einschätzungen möglicher Folgen eines solchen Gesetzes.
Solche Verbote würden laut dem Regulierungsvorschlag für Werbung in sämtlichen Medien gelten, und das für eine breite Produktpalette. «Betroffen wären hauptsächlich zuckerhaltige Getränke, Süssigkeiten wie Bonbons oder Kekse, Joghurts, Speiseeis, Frühstückscerealien sowie salzige Snacks», steht in den Erläuterungen zur Umfrage.
Schon unter SP-Bundesrat Alain Berset sagte das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) dem Zucker den Kampf an. Berset persönlich liess sich im vergangenen Jahr in der Bundesstadt im Bernerhof mit Vertreterinnen und Vertretern der Getränkeindustrie fotografieren. Der Gesundheitsminister hatte sich mit Unternehmen wie Coca-Cola, Rivella, Goba und Ramseier auf eine freiwillige Zuckerreduktion von zehn Prozent in Süssgetränken geeinigt. Davor hatten sich schon die Hersteller von Joghurts und Frühstückscerealien verpflichtet, ihren Produkten schrittweise Süsse zu entziehen. Mittlerweile hat Berset das Dossier an seine Parteikollegin Elisabeth Baume-Schneider weitergereicht. Das weckt bei den Unternehmen gemischte Gefühle. «Bei Berset war immerhin klar, dass er gemeinsam Lösungen mit der Industrie sucht. Mit Baume-Schneider ist das ungewiss. Die Lage ist unberechenbar», sagt ein Industrievertreter, der nicht genannt werden will.
Allerdings hatte der Bundesrat bereits zuvor klargemacht, dass er bei an Kinder gerichtete Werbung mit seiner Geduld am Ende ist. «Der Bundesrat hat bis anhin mit der Industrie eine Politik der freiwilligen Massnahmen verfolgt», schrieb er im letzten August in einer Stellungnahme auf eine Motion zum Thema. «Die seit beinahe einem Jahrzehnt laufenden Gespräche mit der Lebensmittelindustrie zu Lebensmittelmarketing bei Kindern haben jedoch zu keiner Einigung über die Kriterien geführt, obwohl es sich dabei um einen sehr sensiblen und besonderen Marketingbereich handelt», heisst es dort weiter. Ein «Regulierungsprojekt» ist aus Sicht des Bundesrats eine Lösung für das Problem.
Pommes Frites ab 18 Jahren
Doch wie könnte eine solche Regulierung aussehen? Die Schweizer Behörden orientieren sich am Ausland. BLV-Vizedirektor Michael Beer liess an einem Anlass mit verschiedenen Stakeholdern die Generaldirektorin der portugiesischen Gesundheitsbehörde, Maria João Gregório, auftreten. Sie zeigte auf, wie Portugal mit 2019 eingeführten Gesetzen die Werbung einschränkt. Werbeverbote gelten seither für gewisse Nahrungsmittel unter anderem auf Smartphone-Apps oder in TV-Sendungen, die sich an Kinder unter 16 Jahren richten. Im Umkreis von Schulen dürfen Chips, Schokolade, Süssgetränke und Ähnliches nicht angepriesen werden.
Andere Massnahmen in Europa betreffen nicht nur das Marketing. Gemäss einem Vorschlag der christdemokratischen Partei CDA in den Niederlanden sollte ein Mindestalter für den Verkauf von Fastfood diskutiert werden. Pommes frites erst ab 18 Jahren wären somit ein realistisches Szenario. In Grossbritannien regeln Gesetze bereits heute, wo Supermärkte stark salz- oder zuckerhaltige Produkte platzieren dürfen. Prominente Standorte, die zu Impulskäufen anregen, sind tabu.
Einen umfassenden Kinderschutz fordert die Weltgesundheitsorganisation. Die Schweizer Behörden richten sich stark nach deren Empfehlungen, wie eine Sprecherin des BLV bestätigt. «Die Einschätzungen und Richtlinien der WHO haben einen bedeutenden Stellenwert. Die schweizerische Gesundheitspolitik wird oft auf Grundlage der WHO-Empfehlungen gestaltet.» Die WHO definiert den Kinderschutz bei Werbung bis zu einem Alter von 18 Jahren. Dabei ist die Altersfrage für die Lebensmittelbranche entscheidend. Bislang sprach man in der Schweiz von Kindern bis 13 Jahren, die vor bestimmten Marketingmassnahmen geschützt werden sollen. Der Blick auf die WHO-Standards und die eingeführten Massnahmen anderer Länder deutet auf eine grosszügigere Auslegung dieser Definition hin. «Ich erwarte, dass es auch in der Schweiz in Richtung 16 oder 18 Jahre geht», sagt die Managerin eines Lebensmittelproduzenten.
Mehr zum Thema Schoggi
Die logische Folge der Auslegung der WHO: Die Organisation empfiehlt besonders weitreichende Werbeeinschränkungen in sämtlichen Medien. Fantasiefiguren, die Kinder ansprechen könnten, gehören demnach verboten. Als Vorbild nennt die in Genf ansässige WHO unter anderem Chile. Das südamerikanische Land hat Comicfiguren von den Verpackungen zuckriger Cornflakes oder salziger Chips schon vor Jahren verbannt. Frösche, Tiger oder Feen sind dort nicht mehr zu sehen. Sogar Weihnachtsmänner aus Schokolade kamen auf den Index. Sie könnten Kinder zu ungesundem Essverhalten verführen, so die Einschätzung der Gesundheitsbehörden. Statt lächelnder Schoggi-Samichläuse kamen deshalb gesichtslose Schokoladenfiguren in die Regale der Supermärkte.
Süsses ist «des Teufels»
Für die Schweizer Schokoladenhersteller sind solche Szenarien der Horror. Bei den Verbänden Chocosuisse und Biscosuisse befürchtet man das Schlimmste: ein umfassendes Werbeverbot für Süssigkeiten. Urs Furrer, Direktor beim Verband der Schweizer Schokoladenhersteller Chocosuisse, stemmt sich gegen eine solche gesetzliche Regulierung. «Die Bestrebungen des BLV könnten im Extremfall bis zu einem weitgehenden Verbot für Werbung für Produkte mit hohem Zucker-, Salz- oder Fettanteil führen.» Die Fixierung des Bundes auf die WHO bereitet Furrer Sorgen. «Produkte mit hohem Salz-, Zucker- oder Fettanteil sind gemäss den WHO-Richtlinien anscheinend des Teufels.» Für Unbehagen bei Händlern und Herstellern sorgt die Formulierung im Gesetzesentwurf, wonach Einschränkungen aufgrund international anerkannter Ernährungsempfehlungen möglich sind. Damit könnten Richtlinien der WHO einfach übernommen werden, so die Befürchtung.
Die Standards der WHO wandte der Bund bei einer im vergangenen Jahr in Auftrag gegeben Studie an, um den Einfluss von Marketing auf Kinder in sozialen Medien zu untersuchen. Dazu installierte man eine App auf den Smartphones von Kindern im Alter zwischen 4 und 16 Jahren. Die Applikation registrierte, welche Werbung die Kinder in Kanälen wie Youtube, Instagram und Snapchat während dreier Wochen zu Gesicht bekommen. Dabei entdeckte die Studie 768 Werbebeiträge für Lebensmittel, die laut WHO-Definition als ungesund gelten. Anteilsmässig am meisten dieser Werbespots zeigten die Migros, vor Lindt und Coop.
Berücksichtigt wurde dabei jegliches Marketing für Süssigkeiten und Snacks in sozialen Medien. In der Industrie sorgt das für Stirnrunzeln. Patrick Marty, Geschäftsführer der IG Detailhandel, zu der Coop, Migros und Denner gehören, kritisiert den Ansatz. «Es geht nicht nur um Werbung, die sich an Kinder richtet. Nur schon die Sichtbarkeit von Werbung von Genussprodukten wird von den Behörden als problematisch erachtet. Das ist aus unserer Sicht völlig unverhältnismässig.»
Nach der Logik der Tracking-Studie ist somit auch problematisch, wenn der Maître Chocolatier von Lindt in der Werbung die Lindor-Kugel von Hand mit einem Schwingbesen füllt, die Migros auf Instagram einen Kuchen bewirbt oder Zweifel auf Youtube ihre neuen Chips in der Geschmacksrichtung «Poulet im Chörbli» zeigt. Einfach weil diese Produkte viel Zucker oder Salz enthalten.
Bei den Grossverteilern stösst die Untersuchung des Bundes deshalb auf Skepsis. «Wir kritisieren, dass mehrheitlich Werbung getrackt wurde, die sich gar nicht explizit an Kinder richtet», sagt Gabi Buchwalder, Projektleiterin Direktion Wirtschaftspolitik bei der Migros. Ähnlich sieht das Coop. «Es fehlt immer noch eine klare Definition, wann eine Werbung als an Kinder gerichtet gilt», sagt ein Sprecher. Zudem berücksichtigte die Studie den bei Kindern wichtigen Kanal Tiktok nicht. Lindt betont, dass das Unternehmen keine Werbung für Produkte in Medien schaltet, in denen mehr als 30 Prozent des Publikums Kinder unter 16 Jahren sind.
Zucker ist der neue Tabak
Karola Krell, Leiterin der Kommission Ernährung des Nahrungsmittelindustrieverbands Fial, zieht den Vergleich von Zucker mit Suchtmitteln, wenn es um neue Regulierungen in der Schweiz geht. «Gewisse Nahrungsmittel werden von den Behörden in die gleiche Ecke gestellt wie Tabak.» Bezüglich der Absichten des BLV und des Bundesrates sei noch vieles unklar. Beispielsweise, ob Beschränkungen auch für Verpackungen gelten sollen. Ein Werbeverbot sei ein grosser Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit, sagt Krell. «Die politischen Diskussionen werden heiss laufen.»
Die Teilrevision des Lebensmittelgesetzes kommt vors Parlament. Die Vernehmlassung ist für das erste Halbjahr geplant. Und wie ist die politische Stimmung? Urs Furrer von Chocosuisse äussert sich vorsichtig optimistisch: «Ich höre im neu zusammengesetzten Parlament auch vermehrt Stimmen, die genug von der Regulierungswut haben.» In der Branche sehen das nicht alle so. «Ich habe den Eindruck, dass Werbeverbote im neuen Parlament einen starken Rückhalt haben», sagt ein Industrievertreter. Der Wille, solche wirtschaftlichen Freiheiten einzuschränken, sei viel grösser als noch vor zehn Jahren. Damals gab es die letzte Revision des Lebensmittelgesetzes, bei der keine rechtlichen Einschränkungen zustande kamen. Diesmal soll es anders werden, da die freiwilligen Massnahmen aus Sicht des Bundes unzureichend sind. Lebensmittelproduzenten haben unter dem sogenannten Swiss Pledge eigene Regeln aufgestellt, wie mit Marketing an Kinder umgegangen werden soll. Doch die sind im Vergleich zu den WHO-Richtlinien viel weniger streng.
Tatsache ist: Werbebeschränkungen geniessen nicht nur in linken Kreisen Rückhalt, sondern stossen auch in der Mitte auf Zustimmung. Die Motion «An Kinder gerichtetes Lebensmittelmarketing. Es braucht eine Rechtsgrundlage» haben mehrere Mitte-Politikerinnen und eine Vertreterin der EVP unterzeichnet. Der Bundesrat zeigt in seiner Stellungnahme Verständnis für deren Anliegen. «Ernährungsgewohnheiten werden schon sehr früh entwickelt, und Kinder sind sehr empfänglich für Marketing.» Laut dem Bund sind in der Schweiz 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig oder adipös. Gemäss den Messungen der WHO liegt dieser Wert bei Kindern zwischen fünf und neun Jahren in der Schweiz gar bei 23 Prozent. Die Stiftung für Konsumentenschutz setzt sich ebenfalls für eine gesetzliche Regelung in der Schweiz ein. Man wolle dort Beschränkungen, wo die Werbung auf Kinder ziele, sagt Josianne Walpen, Leiterin Ernährung bei der Organisation. «Es geht um die Sprache, Bilder und die Art von Geschichten, die in den Werbungen verwendet werden.» Auch der Kanal spiele eine Rolle. Snapchat, Tiktok, Youtube oder Spiele-Apps sprechen Kinder demnach besonders an. Die WHO fordert deshalb in sozialen Medien besonders strenge Massnahmen, etwa Alterskontrollen für Lebensmittelwerbung nach dem Vorbild von Tabakprodukten.
Grosser Aufwand für KMUs
Die Tracking-Studie des Bundes zeigte, dass die Altersgruppe von vier bis neun Jahren in den sozialen Medien überdurchschnittlich oft Werbung für ungesunde Lebensmittel gesehen hat. Allerdings war die Stichprobe mit 77 teilnehmenden Kindern vom Umfang her eher bescheiden.
Unabhängig davon, wie tiefgreifend die Werbeverbote in der Schweiz ausfallen werden: Für die Firmen wird das Marketing laut Chocosuisse-Direktor Urs Furrer komplizierter. «Der Compliance-Aufwand für Unternehmen wird steigen, egal wie die Werbeeinschränkungen aussehen. Das ist vor allem für kleinere Firmen problematisch.» In Grosskonzernen sind die personellen Kapazitäten für die Kontrolle der Einhaltung von Regulierungsmassnahmen vorhanden. Für ein KMU verursachen die Abklärungen, was erlaubt ist und was nicht, dagegen einen im Verhältnis viel grösseren Aufwand.
Schon vor dem Inkrafttreten von Marketingverboten reagieren Unternehmen auf den wachsenden politischen Druck. So hat Lidl angekündigt, bei den Eigenmarken auf Verpackungen mit «Kinderoptik» zu verzichten. Der Discounter will beispielsweise die Löwen, Drachen und Affen, die je nach Cornflakes-Sorte von der Schachtel lachen, verbannen. Gesichtslose Weihnachtsmänner wird es bei Lidl aber nicht geben. «Davon ausgenommen sind Produkte zu spezifischen Festen wie zum Beispiel Weihnachten und Ostern», sagt ein Sprecher von Lidl Schweiz.
Strengere Regeln oder neue Gesetze dürften nicht vor Kindermarketing haltmachen. Ein Diskussionspunkt sind verschärfte Deklarationspflichten. Das BLV setzt sich für detaillierte Angaben zu Inhaltsstoffen ein. So befürchten Hersteller, dass künftig das Ursprungsland von Zutaten, wie beispielsweise den Haselnüssen in der Milch-Nuss-Schokolade, angegeben werden muss. Ein Riesenaufwand, zumal sich das Herkunftsland je nach Saison ändern kann.
Verschiedene neue Auflagen werden von den Behörden in der EU diskutiert, darunter eine Regulierung zur Reduzierung von Verpackungen. Demnach sind beispielsweise Pralinenschachteln problematisch. Urs Furrer könnte noch weitere Themen aufzählen. «Es kommt eine Welle von Regulierungen auf die Nahrungsmittelindustrie zu», prophezeit der Chef des Schokoladenverbandes.