Tamara Jenni (34) hat ihren Chefs und Chefinnen nicht nachgetrauert. «Ich finde es lässig, meinen eigenen Tag zu organisieren und auch mal die Tagesverantwortung für das Team zu übernehmen», sagt die Fachfrau Gesundheit.
150 Pflegenden der Spitex Chur arbeiten seit vier Jahren ohne eine Chefetage. Sie schreiben ihre eigenen Dienstpläne, entscheiden, wen sie einstellen und wie viel Zeit sie bei Patienten und Patientinnen verbringen.
Heute fehlen in der Schweiz die Pflegekräfte, gleichzeitig steigen die Gesundheitskosten. Solche selbstorganisierten Teams könnten dagegen helfen.
Erfolgsmodell aus den Niederlanden
Vorbild ist das Modell «Buurtzorg» aus den Niederlanden – auf Deutsch so viel wie «Nachbarschaftshilfe». Über 14'000 Pflegekräfte arbeiten ohne Vorgesetzte. Damit gibt es weniger Bürokratie – und die Gesundheitskosten sind drastisch gesunken: Laut Gründer Jos de Blok (63) werden rund 660 Millionen Euro pro Jahr eingespart.
Nach diesem Beispiel organisieren sich die Pflegenden der Spitex Chur. Aufgaben wie Qualitätskontrolle und die Finanzen teilen sie untereinander auf. Jenni schreibt zum Beispiel regelmässig die Einsatzplanung. Bei besonderen Verdiensten dürfen sich die Pflegenden sogar spontan einen Prämienlohn auszahlen.
Kein einfacher Import in die Schweiz
Die schöne neue Pflegewelt lässt sich aber nicht so einfach aus den Niederlanden importieren. «Man hatte Hoffnungen, mit dem neuen Modell auch die Effizienz zu steigern», sagt Daniel Jörg, Co-Geschäftsleiter der Spitex Chur. Bis jetzt seien die Pflegekosten aber nicht gesunken.
Jörg führt das auf die verschiedenen Rollen zurück: Das mache die Arbeit zwar abwechslungsreich, aber führe zu weniger Effizienz.
Ausserdem operiert die Spitex Chur noch immer in den Maschen des Schweizer Gesundheitssystems – der administrative Aufwand hätte nicht so stark reduziert werden können, wie in den Niederlanden. Jörg ist zum Beispiel für die operative Gesamtführung zuständig und die Pflegenden werden durch HR-Mitarbeitende unterstützt – letztere braucht es in den Niederlanden nicht mehr.
Attraktiv für junge Pflegende
Besonders bei jungen Pflegenden kann die Arbeit ohne Chef trotzdem punkten: «Junge Leute wollen selbst mitbestimmen. Das entspricht dem heutigen Zeitgeist», so Jörg.
Obwohl in der Schweiz jeden Monat rund 300 Pflegende aus dem Beruf aussteigen, hat die Spitex Chur keine Probleme bei der Rekrutierung: «Letztes Jahr sind wir um fast fünfzig Mitarbeitende gewachsen. Wir haben auch genug diplomierte Pflegende. Das ist in der Branche zurzeit nicht selbstverständlich», sagt Jörg.
Ein Zukunftsmodell?
Für einige langjährige Mitarbeiterinnen sei der Wechsel aber nicht ganz einfach gewesen, so Jenni. «Sie sind eine Führungsperson gewöhnt.»
Trotzdem sieht Jörg in der Pflege ohne Chef ein Zukunftsmodell: Er hofft, dass es damit für junge Menschen wieder attraktiver wird, in die Pflege einzusteigen. Und dann auch zu dort zu bleiben: Tamara Jenni kann sich jedenfalls keinen anderen Beruf vorstellen.