Guy Iluz (26) wollte eigentlich nur mit seinen Freunden feiern. Trance und Yoga geniessen beim Supernova Sukkot Gathering, einem Musikfestival im Süden Israels. Doch im Morgengrauen kamen Hamas-Terroristen, massakrierten Guys Freunde – und schossen auf den jungen Israeli.
Auf der Flucht meldet er sich bei seinen Eltern, die getrennt leben. «Guy rief zuerst mich an», erzählt seine Mutter Doris Liber (56) in Genf. «Er sagte mir nicht, was los war. Er wollte nicht, dass ich mir Sorgen mache.» Dann rief er seinen Vater an. Doris Liber: «Später telefonierten wir zu dritt. Wir haben nicht viel miteinander gesprochen, weil Guys Vater meinte: Er soll nichts sagen, sonst hören ihn die Terroristen.»
Ein Teil des Telefonats ist im Internet veröffentlicht. «Papa, ich liebe dich», sagt Guy auf Hebräisch. «Ich bin zwischen dem Kibbuz Re’im und dem Kibbuz Nir Am. Ich verstecke mich hinter einem Baum.» Der Vater will wissen: «Siehst du Terroristen?» Guys Antwort lautet: «Ja. Hier gibt es keine Sicherheitskräfte.»
Guys Mutter berichtet, dass die Hamas-Terroristen dann auf Guy geschossen haben. «Er schaffte es nicht mehr, die offene Wunde mit einem Hemd zu verbinden. Der Notruf hat ihm dann gesagt, er soll es zu einer Kugel formen und so die Blutung stillen.»
Beim letzten Telefonat verspricht die Mutter ihrem Sohn: «Ich werde dich holen.» Zu diesem Zeitpunkt weiss sie nicht, dass die Hamas auf dem Festivalgelände etwa 260 Menschen getötet hat – und so viele wie möglich nach Gaza entführt. Am Ende sind es mehr als 200.
Israels 11. September
Seit dem 7. Oktober, dem israelischen 9/11, ist Doris Liber im Ausnahmezustand. Sie bangt um das Leben ihres einzigen Sohns.
Zwei seiner Freunde konnten sich noch in Sicherheit bringen, einer wird wie Guy vermisst, die anderen wurden von den Islamisten niedergemetzelt. «Ich habe die letzten zwei Wochen in Israel das Haus nur für Beerdigungen verlassen», erzählt die Mutter. Sie rechnete jeden Tag damit, Besuch von den Behörden zu bekommen. «Wenn jemand stirbt, dann kommt die Polizei mit einem Sozialarbeiter vorbei. Bislang kam niemand zu mir. Das macht mir Hoffnung. Aber es bleibt die grosse Ungewissheit.»
Seit ein paar Tagen hat sich ihre «emotionale Achterbahnfahrt» verschärft, wie Liber gesteht. Denn da tauchte plötzlich ein Propaganda-Video der Hamas auf. Darin behauptet ein Islamist, Guy sei im Gazastreifen von israelischen Bomben getötet worden. Eine offizielle Bestätigung gibt es nicht. Und die israelischen Behörden haben ihr Mut zugesprochen. Vieles spreche dafür, dass ihr Sohn noch am Leben sei. «Ich weiss nicht, welches psychologische Spiel die Hamas gerade treibt. Ich will nur noch meinen Sohn zurück.»
Hoffen? Bangen? Abwarten? Doris Liber ist überzeugt: Ihr Sohn kommt nur mit internationaler Hilfe und durch internationalen Druck zu ihr zurück. Deshalb ist sie mit Angehörigen anderer Geiseln nach Genf gereist. Ihre Mission: die Welt aufrütteln, damit die Hamas einlenkt und die Geiseln freigibt.
Doris Liber traf am Freitag mit Mirjana Spoljaric Egger (51) zusammen, der Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Auch mit dem Uno-Menschenrechtskommissar Volker Türk (58) konnte sie sprechen. Libers Ansage war so einfach wie überwältigend: «Tut, was immer ihr tun könnt. Bringt mir meinen Sohn zurück.» Neuigkeiten darüber, wie es Guy geht, erfährt sie in der Schweiz nicht.
IKRK hat keinen Zugang zu den Geiseln
In Genf, der Stadt der Menschenrechte und der Diplomatie, begegnet Doris Liber den Niederungen der Machtpolitik. Das IKRK kann sich nur um die Geiseln kümmern, wenn beide Konfliktparteien zustimmen. Und: Es hat noch keinen Zugang zu den Entführten.
Auch der Uno-Menschenrechtskommissar kann erst aktiv werden, wenn Israel ihn darum bittet. Doch das Verhältnis zwischen Jerusalem und den Vereinten Nationen ist wegen vieler antiisraelischer Resolutionen der Völkergemeinschaft denkbar schlecht.
Journalisten empfängt Doris Liber in einem Büroraum in Genf, unweit vom Sitz der Vereinten Nationen. Medienschaffende aus der Schweiz, aber auch aus anderen Nationen wie etwa Mexiko interessieren sich für das Schicksal der vielen Geiseln, von denen ihr Sohn Guy nur eine ist.
Hoffnungsschimmer
Am Freitagabend erfährt sie, dass zwei Entführte mit US-Pass freigelas- sen wurden. «Das ist ein Hoffnungsschimmer. Aber wir müssen den Druck aufrechterhalten, damit auch die anderen so schnell wie möglich freikommen. Die Nationalität darf keine Rolle spielen. Es geht um unschuldige Menschen.»
Über Politik will die Mutter nicht sprechen. «Es geht hier nicht um Krieg, sondern um Zivilisten. Sie brauchen medizinische Hilfe und sollen sofort befreit werden.»
Liber erzählt von ihrem Sohn, der für die Musik lebte. «Er spielt Gitarre, seit er neun Jahre alt ist. Er hat für Musiker wie Shalom Hanoch den Sound gemacht.» Hanoch (77) gilt als Vater des israelischen Rock.
Doris Liber zeigt ein Video, das die Familie aufnahm, um auf Guys Schicksal aufmerksam zu machen. Der Film ist zum Heulen, doch Guys Mutter hat keine Tränen: «Ich weiss nicht, was ich fühlen soll. Mein Leben hat sich schlagartig verändert. Es gibt ein Vorher und ein Nachher.»
Sie sieht jetzt müde und verzweifelt aus. «Wenn ich lächle, dann nur, weil ich nicht verstehe, was los ist.»
Was gibt ihr Halt in diesen Tagen? Doris Liber weicht der Frage aus. Sie wiederholt das Versprechen, das sie ihrem Sohn gegeben hat: «Ich werde dich holen.»