Grosse Teile der Schweiz sind auch im Herzen keine Bauern mehr
Vom Nationalhelden zum Subventionsjäger

«Schweizerart ist Bauernart», hiess es früher. Heute sind sich Stadt und Land fremd geworden. Was ist da passiert? Eine Spurensuche.
Publiziert: 07.08.2021 um 01:10 Uhr
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Aktualisiert: 07.08.2021 um 10:45 Uhr
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Die heile Welt auf dem Land – wir liebten sie.
Foto: Keystone
Sermîn Faki

Wir waren Bauern, und wir liebten es. Die Schweiz ist so stolz auf ihre bäuerliche Herkunft, dass wir sogar aus unserem Nationalhelden einen Bauern machten. Wilhelm Tell, auch wenn es ihn nie gegeben hat, soll Bergbauer aus Bürglen UR gewesen sein. Als solcher verkörperte er das wahre Schweizertum: «gschaffig» und rechtschaffen, integer und freiheitsliebend.

«Schweizerart ist Bauernart» – so wurde es früher in der Schule gelehrt, so erzählen es noch heute die Anker-Bilder und Gotthelf-Verfilmungen. Die Stadt hingegen macht krank, das kann man ja beim «Heidi» nachlesen.

Stadt/Land – Geteilte Schweiz?

Die Schweiz versteht sich nicht mehr so richtig. Warum? Und wie kann man das ändern? Die grosse Blick-Sommerserie zum Stadt-Land-Graben geht diesen Fragen aus verschiedenen Perspektiven auf den Grund.

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«Kein anderes Land hat wohl so sehr ein Bauern-Image wie die Schweiz», schrieb der Solothurner Autor Peter Bichsel (86) einst. Er nahm sich selbst nicht aus: «Ich war damals wohl zehn oder elf, und selbstverständlich wollte ich jetzt Bauer werden», beschreibt er eine Kindheitserinnerung. «Sonntags hatten die Bauern viel Besuch von Städtern. Ich verachtete sie innerlich, weil ich selbst ja kein Besucher war, sondern ein Bauer, der dazugehörte.»

Von Nationalhelden zu Subventionsjägern

Heute sind «die Bauern» die anderen, sie werden als Subventionsjäger und Umweltverschmutzer beschimpft. Was ist da passiert?

Ziemlich viel. Da ist zum einen der Strukturwandel. Stellten zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Bauern noch zwei Drittel der Bevölkerung, sind heute gerade einmal drei Prozent aller Erwerbstätigen im Agrarsektor tätig.

Das heisst auch: Wir haben den Stallgeruch verloren, die Erdung auf dem Feld. Essen kommt heute aus der Migros – oder gar aus dem Internet.

Es ist gar nicht so lange her, dass das anders war. Vor 80 Jahren, als Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen (1899–1985) die Anbauschlacht ausrief, war jedem Schweizer Kind klar, woher die Rösti auf dem Teller kam. Und die Bauern erhielten dafür höchste Wertschätzung.

Immer grösser, immer mehr

Der bereits 1897 gegründete Bauernverband unterstützte dieses Image kräftig. Doch das Bild von der Bauern-Idylle prallte mehr und mehr auf die Landwirtschafts-Realität. Statt Kleinstbetriebe am steilen Hang überwucherten halbe Agrarfabriken das Mittelland mit riesigen Maschinenparks für die immer grösseren Flächen.

Die Zahl der Betriebe, die weniger als 20 Hektar gross sind, hat sich in den letzten 20 Jahren halbiert, während sich jene, die mehr als 100 Hektar bewirtschaften, verdreifacht hat. Ein Prozess, der schon länger anhält.

«Seit den 1960er-Jahren fand eine eigentliche Industrialisierung der Landwirtschaft statt», sagt Mirjam Halter (42), Geschäftsleiterin des alternativen Thinktanks Vision Landwirtschaft. «Es galt, durch den Einsatz von Chemie und den Zukauf von Futtermitteln Ertrag und Effizienz zu steigern.»

Umwelt- und Klimaschutz macht den Bauern zu schaffen

In den 1990er-Jahren habe man die Auswirkungen auf Umwelt und Klima gesehen. Ab dann legte die Agrarpolitik einen stärkeren Fokus auf Ökologie. Doch das sei nie zu Ende gebracht worden, wie Halter sagt. «Bis heute hat die Landwirtschaft keines ihrer Umweltziele erreicht!» Insbesondere in den Städten werde das nicht goutiert.

Auch Patrick Dümmler, Agrarexperte der liberalen Denkfabrik Avenirsuisse, sieht im Umwelt- und Klimaschutz einen wichtigen Treiber für die Entfremdung. Er ruft in Erinnerung, dass die Landwirtschaft für 14 Prozent der Schweizer Treibhausgase verantwortlich ist.

Hochpreisinsel trotz Subventionen

«Hinzu kam eine Preisdiskussion, insbesondere mit dem Markteintritt von Discountern wie Aldi und Lidl.» Sie hätten die im europäischen Vergleich hohen Kosten für Lebensmittel aufgezeigt. «Dieser Widerspruch zwischen Milliardensubventionen und Hochpreisinsel wurde vermehrt hinterfragt und von preissensitiven Kunden nicht einfach hingenommen. Das sehe man am Einkaufstourismus.

«In dieser Mischung und vor dem Hintergrund eines grossen industriellen Agrarkomplexes, der nur noch wenig mit dem romantischen Bild der Bauernfamilien zu tun hat, die der Bauernverband so gern bemüht, wuchs eine kritische Distanz zum Bauernstand», folgert Dümmler.

Die Eintracht gab es nie

Ganz anders sieht das Peter Moser, der wohl wichtigste Agrarhistoriker der Schweiz. «Der Stadt-Land-Graben ist eine willkommene Projektionsfläche, die in der Schweiz wenig mit der lebensweltlichen Realität der Menschen zu tun hat», sagt er. Die behauptete Eintracht zwischen Stadt und Land habe es gar nie gegeben. «Lange waren Menschen auf dem Land Untertanen der Städte. Deshalb gingen viele revolutionäre Bewegungen im 18. und frühen 19. Jahrhundert vom Land aus», ruft er in Erinnerung.

Und später führte die Industrialisierung zu neuen Spannungen. Weil man wollte, dass die Landwirtschaft nach dem Vorbild der Industrie funktionieren sollte. Obwohl das nie gelang, prägt es für Moser noch immer den Anspruch ans Land. «Man will ästhetisch perfekte und immer billigere Lebensmittel, beklagt jedoch zugleich die Motorisierung und Chemisierung der Nahrungsmittelproduktion, die das erst möglich machten.» Die Landwirte steckten im gleichen Dilemma: Sie wollen an diesem Fortschritt teilhaben, wüssten jedoch zugleich, dass ihre Produktionsgrundlage – die Pflanzen und Tiere – nicht wirklich nach industriellen Logiken funktioniert.

Dass beide Seiten einander nicht verstehen, hat für Moser damit zu tun, dass sich Stadt und Land heute nur in der Freizeit oder in der Politik begegnen. «Das führt auf beiden Seiten zu weltfremden Vorstellungen über die Arbeitsbedingungen der anderen», sagt er. Gleichzeitig fördere es die «Sehnsucht nach einfachen, aber unrealistischen Verhältnissen wie beispielsweise derjenigen, dass in der Stadt die Kultur, auf dem Land die Natur vorherrschen sollten».

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