«Hier ist die Lebensart eine andere»
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Stadtzürcherin beim Weinbauer:«Hier ist die Lebensart eine andere»

Städterin besucht Bauern
«Wir sprechen nicht mehr die gleiche Sprache»

Alle reden vom Stadt-Land-Graben. Eine Städterin und ein Bauer überwinden ihn – und treffen sich in ihrer jeweiligen Welt. Wir waren dabei, als Sozialarbeiterin Rita Habegger (59) den Weinbauern Beat Kamm (47) besuchte.
Publiziert: 04.08.2021 um 00:30 Uhr
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Aktualisiert: 04.08.2021 um 13:39 Uhr
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Der Zürcher Unterländer Beat Kamm (47) und die Stadtzürcherin Rita Habegger (59) sprachen darüber, was sie trennt und was sie eint.
Foto: Thomas Meier
Rebecca Wyss

Wie tief ist dieser Stadt-Land-Graben tatsächlich? Stammen Städter und Landbewohnerinnen wirklich von verschiedenen Planeten? Was beschäftigt sie überhaupt? Und können sie noch miteinander reden? Wir wollten wissen, was Sache ist. Trafen uns mit Beat Kamm (47), einem Zürcher Unterländer, und Rita Habegger (59), einer Stadtzürcherin – erst auf dem Land, dann in der Stadt.

Zu den Personen

Rita Habegger (59) ist selbständige Sozialberaterin, arbeitet in Horten und bei Menschen mit Beeinträchtigungen, sitzt im Vorstand der Grünen Stadt Zürich, ist gerade als Co-Präsidentin der Sektion Zürich & Schaffhausen des Berufsverbands Avenir Social abgetreten. Sie lebt mit zwei Untermieterinnen in Zürich-Nord, zog ihre heute 25-jährige Tochter alleine gross.

Beat Kamm (47) ist Winzer und Weintechnologe, sitzt im Ausschuss des Zürcher Bauernverbands und ist Präsident des Branchenverbands Zürcher Wein. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt als Mitglied einer Grossfamilie in Teufen.

Thomas Meier

Rita Habegger (59) ist selbständige Sozialberaterin, arbeitet in Horten und bei Menschen mit Beeinträchtigungen, sitzt im Vorstand der Grünen Stadt Zürich, ist gerade als Co-Präsidentin der Sektion Zürich & Schaffhausen des Berufsverbands Avenir Social abgetreten. Sie lebt mit zwei Untermieterinnen in Zürich-Nord, zog ihre heute 25-jährige Tochter alleine gross.

Beat Kamm (47) ist Winzer und Weintechnologe, sitzt im Ausschuss des Zürcher Bauernverbands und ist Präsident des Branchenverbands Zürcher Wein. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt als Mitglied einer Grossfamilie in Teufen.

Zwei verschiedene Sprachen

An einem der wenigen schönen Juli-Tage fahren wir zu Kamm nach Teufen ZH. Zu seinem Gut gehören rund 55 Hektar Land, genutzt für die Landwirtschaft, zu der auch Weinbau gehört. Ein Betrieb, der seit 1874 in Familienbesitz ist. Der Bruder betreibt den Bauernhof, Kamm den Weinbau – in fünfter Generation. Kamms 76-jähriger Vater fuhr kurz zuvor mit dem Traktor an uns vorbei. Nun sitzen wir mit Kamm und Habegger vor dem Haus. Und sie atmet tief ein, sagt: «So intensiv habe ich schon lange keine Lindenblüten mehr gerochen.»

Wie steht es um das Verhältnis zwischen Stadt und Land in der Schweiz? Beat Kamm nennt es «gegenseitiges Unverständnis». «Städter und Landbewohner leben je in ihrer eigenen Welt. Haben vom anderen Bilder im Kopf. Wir sprechen nicht mehr die gleiche Sprache. Man versteht nicht mehr, in was für Sachzwängen der andere steckt.»

Rita Habegger sagt: «Ich sehe zwischen Stadt und Land eine Spaltung.» Als Städterin ernähre sie sich von den Landwirtschaftsprodukten, habe Verständnis für die Anliegen der Bauern. Aber die Bauern hätten kaum Verständnis für ihre. Bei allen Abstimmungen, die den Umweltschutz, Naturschutz, Tierschutz beträfen, unterliege sie. «Das frustriert mich. Dafür können Sie als Einzelner nichts, Herr Kamm. Der Bauernverband aber schon.»

Im Stall nebenan muhen die Kälbchen, ab und zu tapst eines ins Freie. Kamm sagt, er verstehe den Frust. «So einfach ist es aber nicht.» Viele sähen nicht, welchen Zielkonflikten Landwirte ausgesetzt seien. «Wir müssen widersprüchlichen Anforderungen gerecht werden. Da macht man zwangsläufig immer etwas falsch.»

Ein Beispiel. Bei der Viehhaltung prallten der Tierschutz, der offene Laufhöfe verlange, die Raumplanung, die am liebsten gar keine grossen Ställe in diesem Gebieten mehr hätte, und der Umweltschutz aufeinander. Ein offener Laufhof, der nicht überdacht ist, sei eine Amoniakschleuder. «Diese Zielkonflikte kann man nur lösen, wenn man festlegt, was mehr Priorität hat. Doch das macht keiner.»

Zwei Herzen für den Klimaschutz

Am meisten scheiden sich die Geister bei den Abstimmungen. Wenn es um Migration, Aussenpolitik und Ökologie geht, stimmen ländliche Gebiete rechtskonservativer als die linksliberalen Grossstädte. Das zeigt ein Blick in die Abstimmungsstatistiken der letzten zwanzig Jahre: Das Land überstimmte die Stadt 29-mal, umgekehrt waren es 22-mal. Wahr ist aber auch: In mehr als 70 Prozent der Fälle war man sich einig. So unterschiedlich sind die Standpunkte also gar nicht. Das sieht man auch bei unserem Besuch in Teufen.

Rita Habegger fragt: «Stimmen Sie manchmal auch gegen die Parole des Bauernverbands, Herr Kamm?» Kamm sagt: «Ja, bei Ausländerfragen. Viele Angestellte in der Landwirtschaft stammen aus dem Ausland, wir sind auf sie angewiesen.» Schweizer wollten diese Arbeit oft gar nicht machen.

Eine weitere Gemeinsamkeit offenbart sich: die Klimafrage. Kamm lehnte zwar die Agrar-Initiativen ab. Stimmte aber für das CO2-Gesetz, wie der Bauernverband – und wie Habegger. Und beide befürworten eine Flugticket-Abgabe. «Ich und meine Familie fliegen sehr selten, zuletzt vor vier Jahren nach Zypern», sagt Kamm. Wenn er dann mal fliege, zahle er die paar Franken gerne drauf. «Der Konsument soll ruhig bezahlen, was er verursacht.»

Überhaupt der Klimawandel. Das Unwetter Mitte Juli. Das bewegt beide. Habegger sagt: «Jetzt schreien die Menschen in den überschwemmten Gebieten auf, die tun mir sehr leid, aber man weiss seit 30 Jahren, dass es so kommen muss, weil wir nicht handeln.»

Kamm spürt die Folgen direkt. Ein paar Stunden vor dem Treffen auf dem Hof schaute er auf seiner Reben-Parzelle in Kloten ZH zum Rechten. «Es war ein schwieriges Schauen, als wir ankamen.» Wegen des schlechten Wetters konnte er nicht so mit dem Pflanzenschutz fahren wie sonst, der Hang ist so steil, die Böden so aufgeweicht, die Maschine so schwer – das Spritzen wäre lebensgefährlich gewesen. «Viele Reben sind jetzt vom Mehltau befallen, wir werden 50 Prozent der Ernte von jener Parzelle verlieren.»

Was das heisst, sehen wir hundert Meter neben dem Haus, beim Rebhang. Sofort pickt Kamm die mit weissem Mehltau überzogenen Blätter von den Stängeln. Kann fast nicht mehr aufhören. «Ich muss das machen, es gibt mir keine Ruhe», sagt er.

Beide sind naturverbunden

Jenseits von Abstimmungen existieren die Unterschiede vielleicht mehr in den Köpfen als in der Realität. Beide beschäftigen sich mit der Natur. Mit dem Verhältnis des Menschen zu ihr. «Wir Menschen sind stark mit der Natur verbunden, wir brauchen sie. Ich spüre das, wenn ich auf dem Land bin», sagt Rita Habegger. Jede Woche fährt sie aufs Land, nach Wildberg ZH zu ihrem Wohnwagen. Dort erholt sie sich vom schnellen Treiben, vom Lärm in der Stadt und von den Strapazen ihres Jobs.

Auch Beat Kamm hat eine besondere Beziehung zur Natur. Eine andere aber. «Wir Bauern leben mit der Natur, spüren sie unmittelbar, im Guten wie im Schlechten.» Ein Bauer wie sein Bruder oder Vater tue alles für ein krankes Kalb, versuche es zuerst mit Homöopathie, dann mit Antibiotika und müsse trotzdem manchmal zuschauen, wie es sterbe. «Das tut weh. Man muss Abschied nehmen können.»

Nach zwei Stunden nehmen wir alle voneinander Abschied. Wir sehen uns wieder, nächstes Mal in Zürich.

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