Stadt und Land – so fern oder doch sehr nah? Wir wollen wissen, wie tief der Graben tatsächlich ist. Was die Städter, was die Ländler bewegt. Und trafen uns zusammen mit Beat Kamm (47), einem Zürcher Unterländer, und Rita Habegger (59), einer Stadtzürcherin, erst auf dem Land, dann in der Stadt. Beim ersten Besuch bei Kamm in Teufen ZH erfuhren wir: Nicht nur Städter sind grün, auch Landbewohner wie Kamm sorgen sich ums Klima.
Ein paar Tage später treffen wir uns in der Stadt Zürich. In der Europaallee gleich beim Hauptbahnhof. Hier schiessen zig Häuserwürfel in die Höhe. In den Luxuswohnungen hausen Gutverdiener, in den Büroräumen arbeiten Leute von Google und Co. Es ist Ferienzeit, wenig Menschen, wenig Verkehr. Beat Kamm ist mit dem Auto da, zu früh, sagt: «Sonst kommt man immer nur langsam durch die Stadt.» Rita Habegger ist mit dem Tram von Zürich-Nord angekommen. Zeigt auf einen Kunstweiher, sagt: «Langsam wird es wohnlicher.»
Rita Habegger (59) ist selbständige Sozialberaterin, arbeitet in Horten und bei Menschen mit Beeinträchtigungen, sitzt im Vorstand der Grünen Stadt Zürich, ist gerade als Co-Präsidentin der Sektion Zürich & Schaffhausen des Berufsverbands Avenir Social abgetreten. Sie lebt mit zwei Untermieterinnen in Zürich-Nord, zog ihre heute 25-jährige Tochter alleine gross.
Beat Kamm (47) ist Winzer und Weintechnologe, sitzt im Ausschuss des Zürcher Bauernverbands und ist Präsident des Branchenverbands Zürcher Wein. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt als Mitglied einer Grossfamilie in Teufen.
Rita Habegger (59) ist selbständige Sozialberaterin, arbeitet in Horten und bei Menschen mit Beeinträchtigungen, sitzt im Vorstand der Grünen Stadt Zürich, ist gerade als Co-Präsidentin der Sektion Zürich & Schaffhausen des Berufsverbands Avenir Social abgetreten. Sie lebt mit zwei Untermieterinnen in Zürich-Nord, zog ihre heute 25-jährige Tochter alleine gross.
Beat Kamm (47) ist Winzer und Weintechnologe, sitzt im Ausschuss des Zürcher Bauernverbands und ist Präsident des Branchenverbands Zürcher Wein. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt als Mitglied einer Grossfamilie in Teufen.
Die Stadt ist «nie langweilig»
Habegger ist in Zürich aufgewachsen. Was schätzt sie am Stadtleben?
«Die Stadt ist lebendig, nie langweilig.» Sie zählt auf, weshalb: Menschen mit unterschiedlichsten Lebensstilen; ein riesiges Freizeitangebot, sie habe immer gerne getanzt; der ständige Wandel. «Wenn ich aus den Ferien zurückkomme, sind manchmal ganze Strassenzüge verändert, weil plötzlich Häuser abgebrochen wurden.»
Beat Kamm sagt: «Ich fahre nie zum Spass in die Stadt, nur wenn ich Wein bringe.» Wegen des Verkehrs, wegen der Parkplatzsituation. Andere fahren morgens in die Stadt zur Arbeit, abends gleich wieder heim. Und so werden die Berührungspunkte immer weniger.
Welches Bild hat er von der Stadt?
«Hauseingänge voller Zalando-Päckli.» Manchmal könne er seine Lieferung nicht deponieren. Und wenn er beim Eingang nach dem Namen des Kunden suche, finde er auf den Briefkästen nur Nummern. Kamm lächelt ungläubig.
Anonymität ist typisch für eine Stadt. Aber nicht per se schlecht. Das weiss Rita Habegger. Sie hat mit Randständigen, Alkoholkranken und armutsbetroffenen Familien gearbeitet. Unter anderem auf der Krankenstation Sune-Egge von Pfarrer Sieber. Sie sagt: «Bei vielen Betroffenen ist die Scham gross.» Sie wollten nicht, dass die Nachbarn ihre Sorgen kennen, fürchteten Ablehnung. Die Anonymität der Stadt biete ihnen Schutz.
Und ein soziales Auffangnetz. Hier tut sich ein Graben auf. Das zeigt die Sozialhilfequote: In Grossstädten liegt sie im Schnitt bei 5,7 Prozent, in Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern bei 1,7 Prozent.
Stadt zieht Menschen mit Sorgen an
Soziale Sicherheit ist Teil der Zentrumslasten. Das Thema der Stunde. Verkehr, Spitäler, Museen, Polizei, Hochschulen, all das muss die Stadt stemmen – auch fürs Umland. Zürich wird dafür mit 400 Millionen Franken entschädigt. Die SVP fährt dagegen gerade eine Kampagne.
Rita Habegger ärgert das. Neben uns ziehen die Züge vorbei, der Lärm verschluckt hie und da ein Wort. Aber ihre Botschaft ist unüberhörbar: «Das Land vergisst häufig, dass die Stadt Menschen anzieht, die Sorgen haben.» Beispiel Platzspitz, nur ein Bruchteil der Leute dort sei aus Zürich gewesen.
Beat Kamm nickt. Sagt aber: «Bürgerliche sind nicht sozial abgestumpft. Das ist ein Vorurteil.» Seine Eltern nahmen Pflegekinder auf, die in der Drogenszene verkehrten. Auf einmal waren sie verschwunden, für Jahre, und kamen wieder. «Meine Eltern nahmen sie wieder zu sich.»
Habegger kennt die soziale Not aus eigener Erfahrung. Als Alleinerziehende arbeitete sie viel, verdiente wenig, lebte manchmal unter der Existenzgrenze. Ihre heute 25-jährige Tochter besuchte als Kind einen Hort. «Arbeitstätig und alleinerziehend zu sein, war damals nur in der Stadt möglich.»
Heute ist es ähnlich. In den Grossstädten Basel, Bern, Genf, Lausanne, Winterthur und Zürich lassen rund 80 Prozent der Familien mindestens ein Kind fremdbetreuen. In Graubünden sind es 65, im Wallis 53 Prozent. Die Gründe: Auf dem Land ist das Angebot kleiner, die Eltern können ihre Kinder eher bei den Grosseltern abgeben, weil sie in der Nähe wohnen. Oder: Die Frau bleibt zu Hause.
Wie bei den Kamms. «Seit wir Kinder haben, ist meine Frau Hausfrau.» Zweimal in der Woche leite sie zudem eine Spielgruppe.
Stadt-Land-Kluft ist überwindbar
Wie steht er zur Frauenförderung?
«Die Frauen sind heute sehr gut ausgebildet, Quoten braucht es keine.» Das Betreuungsangebot müsse aber verbessert werden. «Krippenplätze müssten günstiger und die Steuersituation verbessert werden, damit sich für die Frau das Arbeiten lohnt.»
Eine Gemeinsamkeit. Rita Habegger ist für günstigere Krippenplätze. Aber auch ausdrücklich für eine Frauenquote in Führungspositionen – in Branchen, wo es Sinn mache.
Wo die Meinungen auseinandergehen: beim Genderstern. Für Habegger ist der «Genderstern nötig, solange Gleichstellung im Alltag nicht erreicht ist». Für Kamm ist er «ein Nebenschauplatz». Gleichstellung im Alltag, Lohngleichheit zum Beispiel, findet er ein wichtigeres Thema.
Was sie beide zum Schluss eint: der Glaube daran, dass die Stadt-Land-Kluft überwindbar ist.
Beat Kamm sagt: «Wir dürfen das nicht als Graben anschauen.» Man könne in Sachfragen unterschiedlicher Meinung sein, aber die grossen Probleme könne man nur gemeinsam lösen. «Wir müssen wieder mehr miteinander reden.»
Rita Habegger sagt: «Die Stadt schaut fürs Land, als Einzugsgebiet. Und das Land pflegt die Landschaft, produziert unsere Lebensmittel. Das sollten wir uns immer wieder im gemeinsamen Gespräch vergegenwärtigen.»