Stadt mit 60 Seelen, Dorf mit 10'300 Einwohnern
Was macht eine Stadt aus?

Auf den ersten Blick ist der Fall klar: Viele Einwohner machen einen Ort zur Stadt. Wo keine 10'000 Leute leben, haben wir Dörfer und Weiler. Sie bilden das Land, auf dem nur 15 Prozent der Bevölkerung leben. Doch wie vermag dann das Land die Stadt zu überstimmen?
Publiziert: 05.08.2021 um 11:58 Uhr
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Aktualisiert: 05.08.2021 um 15:02 Uhr
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Da ist der Fall klar: Bern, hier mit Blick auf den Zytglogge-Turm, ist eine Stadt – die Schweizer Bundesstadt sogar.
Foto: Keystone
Pascal Tischhauser

Das Land hat die Stadt überstimmt, hiess es nach dem Scheitern des CO2-Gesetzes an der Urne. Nach allgemeiner Lesart haben sich das Emmental, das St. Galler Rheintal und die Bergdörfer zusammen gegen Zürich, Genf und Bern durchgesetzt. Das ist erstaunlich, denn laut Bundesamt für Statistik (BFS) leben gerade mal 15,2 Prozent der Bevölkerung auf dem Land.

Das geht nicht auf. Selbst wenn im Emmental, im Rheintal und in den Bergdörfern alle Bürger vom Krankenbett und dem Rollstuhl aufgestanden und zur Urne gegangen wären, fehlte dem Land über eine Million Stimmen. Wie geht das?

Eine Stadt muss mehr sein

Falsche Frage. Die richtige: Was ist eine Stadt? Früher konnten sich Gemeinden mit mehr als 10’000 Einwohnern zur Stadt erklären. Das reicht dem BFS nicht mehr. Nun muss eine Stadt auch eine Zentrumsfunktion erfüllen – was noch einleuchtet. Aber es zählen auch die Logiernächte – was so manchen Kurort zur Stadt machen würde. Was eine Stadt ist, kann heute nicht einmal mehr der Städteverband so richtig sagen.

Vergessen sollte man bei der Frage nach dem Stadt-Land-Graben nicht, dass es mit Burgdorf BE, Altstätten SG und Brig-Glis VS auch im Emmental, Rheintal und in Berggebieten Städte gibt. Im Rheintal findet sich etwa das Städtli Werdenberg. Das 60-Seelen-Dörfchen mit Schloss gehört politisch zur Gemeinde Grabs SG. Es besitzt das historische Stadtrecht – stimmt und wählt aber eher mit dem ländlich geprägten Rheintal.

Bei Abstimmungen sind bei den Städten neben grossen Citys eben auch die urban geprägten Gebiete mitgemeint. Und zum Land gehören dann halt auch die ländlichen Kleinstädte. So geht das auf.

Dorf bleibt Dorf

Und das mit der Stadt ist so eine Sache. Gleich neben Brig-Glis befindet sich Naters, also «Natersch», wie die Einheimischen sagen. Ein solcher ist Franz Ruppen (50). Der Walliser Staatsrat war bis im Frühling Präsident von Naters, einer wachsenden Gemeinde. Im Juli 2020 hatte sie genau 10'322 Einwohner. Auch die Logiernächte stimmen: Über 220'000 sind es im Jahr. Naters hätte sich längst zur Stadt erklären können. Warum tut es das nicht?

«Brig-Glis ist eine Stadt, Naters nicht», erklärt Ruppen trocken. Um auszuholen: «Naters kam im Oktober 2016 über die Grenze von 10'000 Einwohnern.» Sie hätten im Gemeinderat aber gar nicht darüber diskutiert, ob man nun eine Stadt sein möchte oder nicht. «Das hätte einfach nicht zu Naters gepasst. Naters ist ein Dorf, wo man sich noch kennt.»

Damit macht der alt SVP-Nationalrat klar: Es geht mehr ums Selbstbild, ums Empfinden der Bürger, um deren Mentalität. Ruppen etwa sitzt im Vorstand des Vereins «Lebensraum Wallis ohne Grossraubtiere», das für die Ausrottung des Wolfs ist. Was in einer Stadt für Aufruhr sorgen würde, wo sich Wölfe notabene nur hinter Gittern im Zoo bewegen.

«Derfji blibt Derfji»

«Unser Natischer ‹Nationalsänger›, Z'Hansrüedi, singt ja schon: ‹Natersch, dü bischt miis Derfji und das blibscht dü öi›», sagt Ruppen. Also: Naters, du bist mein Dorf und das bleibst du auch. «Das bringt es doch auf den Punkt», findet er.

Derweil ist Werdenberg einfach von alters her ein Städtli. So einfach ist das. Dafür braucht es kein Bundesamt.

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