GLP-Präsident Jürg Grossen fordert Überprüfung von Ausbauprojekten
Beim Verkehr könnten Milliarden gespart werden!

Mehr Homeoffice würde das Pendlerland Schweiz entlasten. Denn Ausbauten für den Verkehr werden vor allem gemacht, um Engpässe zu beseitigen. GLP-Präsident Jürg Grossen fordert jetzt einen Marschhalt.
Publiziert: 29.07.2020 um 23:16 Uhr
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Aktualisiert: 03.02.2021 um 12:40 Uhr
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«Homeoffice, Videokonferenzen – das hat richtig gut funktioniert», sagt GLP-Präsident Jürg Grossen. Der Bundesrat soll die geplanten Ausbauschritte für Bahn und Auto überprüfen.
Foto: Peter Mosimann
Sermîn Faki

Mehr Homeoffice wünschen sich nicht nur Angestellte. Es würde auch der Staatskasse guttun – und damit unseren Steuern. Zum Beispiel beim Verkehr: 28 Milliarden Franken steckt der Bund bis 2035 in den Ausbau von Schiene und Strasse. Für die Nationalstrassen und den Agglomerationsverkehr sind aktuell Projekte im Umfang von 14,8 Milliarden Franken geplant. Und für die Schiene sind Ausbauten für 12,89 Milliarden aufgegleist.

Ein Grossteil davon ist nötig, um die stetig wachsenden Pendlerströme aufzunehmen. So ist das Hauptziel des Bahnausbau-Schritts bis 2035 die Engpassbeseitigung. Konkret sollen überlastete Strecken so ausgebaut werden, dass mehr Züge mit mehr Sitzplätzen verkehren können, teilweise im Viertelstundentakt.

Über tausend Sitzplätze fehlen bei Zürich–Winterthur

Auf der Strecke Zürich–Winterthur etwa fehlen bis zu 1270 Sitzplätze pro Tag, von Bern nach Thun sind es 410 und am Genferseebogen zwischen Yverdon und Vevey 700. So sagt es die Prognose vom Bundesamt für Verkehr bis 2025 voraus. Wobei «pro Tag» nicht ganz zutrifft. In Wirklichkeit fehlen diese Sitzplätze nämlich nur ein Mal am Tag – zwischen 6.30 und 9 Uhr, zur morgendlichen Pendlerzeit.

Doch anstatt auszubauen, könnte man auch die Spitze brechen. Ideen gab es genug: Mobility Pricing sollte Bahnfahren zu Stosszeiten teurer machen, der Unterricht an Schulen sollte nach hinten verschoben werden und so weiter. Weit kam man nie – es brauche eine Verhaltensänderung in der Gesellschaft, hiess es immer. Arbeitgeber würden doch die Arbeitszeiten nicht flexibilisieren wollen oder ihre Leute niemals von daheim aus arbeiten lassen.

Bringt Corona die Wende?

Für einen Mann zählen diese Ausreden nicht mehr. «Corona hat den Beweis erbracht, dass sich die Arbeitswelt auch anders organisieren lässt», sagt Jürg Grossen (50). Seit Jahren predigt der GLP-Chef sein Mantra «Intelligenz vor Beton». Jetzt soll die Corona-Krise dem endlich Schub verleihen. «Homeoffice, Videokonferenzen – das hat richtig gut funktioniert.» Studien zeigten, dass die Produktivität aus dem Homeoffice sogar höher ist als aus dem Büro. «Wir sollten die Gunst der Stunde und die guten Erfahrungen nutzen.»

Grossen fordert, dass Bundesrat und Parlament nochmals über die Bücher gehen und die anstehenden Ausbauprojekte überprüfen. «Es ist sinnlos, Milliarden dafür auszugeben, wenn es andere Wege gäbe, die den Menschen – den Steuerzahlern, die die Ausbauten ja finanzieren – viel lieber wären.» Die Technik biete viele neue Möglichkeiten für eine höhere Produktivität und gleichzeitig mehr Lebenskomfort. Wenn damit auch noch die Verkehrsspitzen reduziert und Ausbau vermieden werden kann, dann diene das allen.

15 bis 20 Prozent weniger Sitzplatz-Engpass

Grossens Rechnung gehe auf, sagt Claudio Büchel (37), Professor für Verkehrsplanung an der Hochschule für Technik Rapperswil. «Wenn nur jeder Pendler einen Tag im Homeoffice arbeiten würde, würde sich der Sitzplatz-Engpass um 15 bis 20 Prozent reduzieren. Dementsprechend weniger Ausbauten bräuchte es.» Bei den Strassen sei die Rechnung praktisch dieselbe.

Natürlich kann nicht jeder von zu Hause aus arbeiten – das ist auch Grossen und Büchel klar. Häuser werden nicht vom Schreibtisch aus gebaut, auch Pflegepersonal, Coiffeure und Verkäuferinnen müssen ins Geschäft. Doch es sind ohnehin die Heerscharen von Büroangestellten, die täglich in die Zentren pilgern.

Würden sie etwas mehr zu Hause bleiben, liessen sich Unsummen sparen. Nicht die kompletten 28 Milliarden Franken, aber ein Teil davon. Geld, das der Staat gerade gut gebrauchen könnte. Bis zu 30 Milliarden Franken wird die Corona-Krise den Bund kosten, schätzt Finanzminister Ueli Maurer (69). Verkehrsforscher Büchel sagt: «Mehr Homeoffice könnte so einen Teil der Corona-Schulden abbauen helfen.» Er schätzt, dass von den geplanten Investitionen fünf bis zehn Milliarden Franken eingespart werden könnten. «Ohne negative Nebenwirkungen.»

Gelder sind gesprochen

Das sieht CVP-Verkehrspolitiker Martin Candinas (39) ganz anders: «Das kommt überhaupt nicht in Frage. Die Beschlüsse wurden vom Parlament gefasst und die Gelder wurden gesprochen. Die Projekte sind in Planung», sagt der Bündner Nationalrat. Nur schon aus Gründen der Rechtssicherheit dürfe man daran nicht rütteln.

Zudem glaubt er noch nicht, dass die Pandemie in Sachen Homeoffice langfristig so viel ändert, dass dringende Ausbauprojekte plötzlich nicht mehr nötig wären. Viele Arbeitnehmer wollen wieder ins Büro, und die Arbeitgeber wollen das ebenfalls. «Homeoffice hilft höchstens die Kapazitätsprobleme der Zukunft zu dämpfen oder abzuschwächen. Sollten sich in den kommenden Jahren wirklich grosse und unerwartete Veränderungen ergeben, kann man dieser Entwicklung bei den nächsten Ausbauschritten problemlos Rechnung tragen.»

Grossen kontert: «Es wäre unvernünftig und schädlich, nun an der alten Denkweise festzuhalten und teure Verkehrsinfrastruktur auszubauen ohne Ende.»

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