Gerechtigkeit in der Schweiz
«Die direkte Demokratie ist nicht automatisch gerechter»

Eine Demokratie sollte für alle gerecht sein. Was heisst das? Politikwissenschaftlerin Tabea Palmtag erklärt, welche Themen polarisieren – und wann es gefährlich wird.
Publiziert: 09.12.2024 um 13:35 Uhr
|
Aktualisiert: 10.12.2024 um 11:54 Uhr
1/2
«Wer andere Lebensrealitäten versteht, wird offener für unterschiedliche Auffassungen von Gerechtigkeit.»
Foto: Keystone

Auf einen Blick

Die Zusammenfassung von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast.
conny_schmid.jpg
jasmine_helbling_0.jpg
Conny Schmid und Jasmine Helbling
Beobachter

Tabea Palmtag, Sie sind in Deutschland aufgewachsen und leben seit bald zehn Jahren in der Schweiz. Welches Land ist gerechter?
Beide Länder sind Demokratien, die grossen Wert auf das Prinzip der Gleichheit legen. Alle Bürgerinnen und Bürger haben laut Gesetz die gleichen Rechte und können sich an politischen Entscheidungen beteiligen. In Deutschland indirekt, indem sie ein Parlament wählen. In der Schweiz auch direkt durch Volksabstimmungen.

Artikel aus dem «Beobachter»

Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.

Probieren Sie die Mobile-App aus!

Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.

Probieren Sie die Mobile-App aus!

Wir stimmen häufiger ab.
Das ist aber nicht unbedingt gerecht. Einkommensschwache und Geringqualifizierte stimmen zum Beispiel seltener ab. Ausserdem haben viele Leute, die hier leben, keinen Schweizer Pass. Sie haben kein Mitspracherecht, obwohl sie sich genauso an die Regeln halten.

Wie entscheiden Menschen, was gerecht ist?
Meist spontan, aus dem Bauch heraus, aber stark abhängig von ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Position; ist man reich oder arm, männlich oder weiblich, jung oder alt? Oft wird die Wahrnehmung auch von Medien oder politischen Meinungsführerinnen beeinflusst. Ungerechtigkeit ist ein emotionales Thema, damit lässt sich gut Politik machen.

Zur Person

Tabea Palmtag ist 36 und Politikwissenschaftlerin an der Universität Zürich. Sie forscht zu Ungleichheit und politischer Meinungsbildung.

Tabea Palmtag ist 36 und Politikwissenschaftlerin an der Universität Zürich. Sie forscht zu Ungleichheit und politischer Meinungsbildung.

Die SVP findet andere Dinge ungerecht als die SP.
Dieser Graben zeigt sich auch in anderen Ländern. Rechte Wählerinnen und Wähler finden alle Arten von Ungleichheit – etwa zwischen Mann und Frau – weniger problematisch. Sie akzeptieren Hierarchien und orientieren sich am Konzept der Leistungsgerechtigkeit: Wer mehr leistet, soll mehr bekommen. Linke gewichten Bedarfsgerechtigkeit höher: Die Verteilung berücksichtigt individuelle Lebensumstände.

Das klingt abstrakt.
Nehmen wir die Aufteilung einer Pizza: Wer bekommt mehr? Die Person, die sie gebacken, also mehr geleistet hat? Oder die Person, die den ganzen Tag nichts gegessen hat? Beide Prinzipien haben ihre Berechtigung, auch wenn sie manchmal im Konflikt stehen.

Wer ist generell am unzufriedensten?
Wer keine Aufstiegschancen und kaum Sicherheiten hat. Wirtschaftliche Ungleichheit wird über alle Bevölkerungsgruppen hinweg als grosses Problem betrachtet. Unterschiede hingegen, bei denen schon allein umstritten ist, ob sie überhaupt ungerecht sind, spalten die Gesellschaft stärker. So etwa LGBTQ-Rechte.

Wann wird Polarisierung gefährlich?
Wenn eine grosse Mehrheit die Dinge als ungerecht und unveränderbar empfindet, ist das problematisch. Die daraus entstehende Unzufriedenheit kann sich in Resignation und Rückzug äussern. Oder in Wut.

Ist es in einer Gesellschaft mit so unterschiedlichen Werthaltungen überhaupt möglich, alle gerecht zu behandeln?
Das ist ein Anspruch, den man durchaus an eine Demokratie stellen darf. In der Praxis ist er aber wohl unrealistisch. Man wird nie den Zustand erreichen, dass sich alle einig sind, was gerecht ist und was nicht. Das Gute an der direkten Demokratie in der Schweiz ist, dass das System einen zwingt, sich immer wieder mit Andersdenkenden an einen Tisch zu setzen und Lösungen zu suchen. Mir fällt aber auf, dass die Schweiz im Vergleich zu Deutschland viel weniger in politische Bildung investiert – obwohl die direkte Demokratie sehr anspruchsvoll ist. Das benachteiligt insbesondere Menschen, deren Eltern kein Stimmrecht hatten oder die erst im Erwachsenenalter eingebürgert wurden.

Unsere Umfrage zeigt grosse Unzufriedenheit mit der politischen und wirtschaftlichen Elite.
Das überrascht mich nicht. Unklar bleibt, an wen die Leute dabei denken. Wer handelt nicht im Interesse des Volkes? Der CEO der Bank, die Richterin, der Bundesrat? Hier zeigt sich eher eine allgemeine Unzufriedenheit. Das Gute an einer Demokratie ist aber, dass Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, Verantwortliche in die Pflicht zu nehmen, Ungerechtigkeiten anzuprangern und etwas zu ändern.

Was kann der oder die Einzelne tun für eine gerechtere Schweiz?
Die eigene Bubble verlassen. Den Austausch suchen, andere Meinungen anhören, diskutieren. Wer andere Lebensrealitäten versteht, wird offener für unterschiedliche Auffassungen von Gerechtigkeit.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?