Bice Curiger (74), Schweizer Kunstkuratorin von internationalem Rang, Direktorin der Fondation Vincent van Gogh in Arles, ist zu einer späten Erkenntnis gelangt: «Gegen den Weihrauch des Bildungsbürgerlichen haben wir gekämpft. Heute bete ich, dass die Bildungsbürger zurückkommen.»
Auch Christian Thielemann (65), einer der ganz Grossen am Dirigentenpult, sehnt sich nach dem konservativen Groove der Bürgerlichkeit: «Für mich wäre ein konservativer Wert: seine Kinder auf ein altsprachliches Gymnasium zu schicken. Auch Tisch- und Essmanieren beizubringen und auf ein gepflegtes Auftreten Wert zu legen. (…) Disziplin zähle ich dazu.»
Ausgerechnet zwei prominente Vertreter der Kunstwelt beklagen einen Mangel an bürgerlicher oder konservativer Kultur. Das ideologische Tohuwabohu, das dieses Ambiente aktuell bestimmt, erweckt Unbehagen, auch wenn es ja irgendwie dazugehört – aber vielleicht doch lieber nicht so …
Was ist das überhaupt, Bürgerlichkeit?
Es ist die Emanzipation des Individuums zum Bürger, zu einem Menschen mit Interesse am Zeitgeschehen – über das private Wohlergehen hinaus. Genau damit beginnt Politik, die gemäss Hannah Arendt gleichbedeutend ist mit Freiheit.
Ja, Politik ohne Freiheit ist nicht denkbar – und umgekehrt.
Der Einzelne bedarf der Gemeinschaft, in der er dieses entgrenzende Engagement verwirklichen kann – mit Gleichgesinnten, mit Andersgesinnten. Diese Gemeinschaft ist die Bürgerschaft, ihren Rahmen bilden Demokratie und Rechtsstaat.
Die bürgerliche Gesellschaft.
Sie verfügt über ihre eigene Ästhetik; sie legt Wert auf Erscheinen und Benehmen; sie pflegt Bildung und Sprache; sie schätzt all dies als ideale Form einer freiheitlichen Zivilisation – der westlichen politischen Kultur.
Das Selbstbewusstsein so vieler Bürgerinnen und Bürger aus unterschiedlichsten sozialen Milieus zeigt sich darin, dass sie bürgerlich auftreten, bürgerlich gebildet sind, bürgerlich kommunizieren – in Formen der Gleichheit, Formen der Freiheit!
Sind diese bürgerlichen Werte heute noch gesichert? Es findet gerade ein ideologischer Feldzug gegen diese Grundhaltung statt: Die Freiheit des Einzelnen und Gleichen soll ersetzt werden durch ein Anspruchsrecht von Gruppen: Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe sind die neuen Kriterien, denen die Gesellschaft Proporz-Raum garantieren soll.
Die Gleichheit aller Individuen als Ausgangspunkt der Freiheitsordnung gilt nicht länger, der einzelne Gleiche Homosexuelle, der einzelne Gleiche Schwarze, die einzelne Gleiche Frau wird ersetzt durch unterschiedliche Communitys, denen das Recht zu dienen hat, andernfalls sofort Beleidigung, ja Verletzung geltend gemacht werden, Straftatbestände vor dem Ideologie-Gericht. Die Keulenbegriffe dazu lauten: Homophobie, Sexismus, Rassismus, gern auch Kolonialismus.
Die antibürgerlichen Bilderstürmer sind die verwöhnten Kinder und Kindeskinder der 68er-Generation, der ersten Revoluzzerbewegung, deren Schweizer Wortführer aufwuchsen am reichen Zürichberg oder in den Nobelquartieren Basels – ein anmassender Kindergarten-Karneval, der bald schon die Institutionen, die oberen und obersten Etagen von Politik, Verwaltung und Universitäten eroberte. Es war ein akademischer Elitismus, der sich heute noch viel bestimmender breitmacht: Unter den linksgrünen Weltrettern hält man vergeblich Ausschau nach Bodenlegern, Schreinermeistern, Mechanikern oder Heizungsmonteuren, überhaupt nach wirtschaftlich-industriellen Leistungsträgern.
Dieser verwöhnten Höchstkonjunktur-Jugend mit Erbschaft im Portfolio gilt die westliche Welt als politisch-historischer Sündenpfuhl, als Ursache für das Elend eines guten und edlen und gerechten globalen Südens. So geht der Reim der reinen Lehre dieser Kids in ihren angesagten Sneakers und hippen, teuren Löcherjeans – zerschlissene Kleidung als zynische Aneignung des Stigmas von Armut, dieweil die arbeitende Bevölkerung Wert legt auf bürgerliches Outfit als Ausdruck von Aufstieg und Leistung.
Der philosophische Ausgangspunkt des Bürgertums, dieser Kultur der Aufklärung, ist die Gleichheit des Einzelnen, unbesehen von Klasse, Rasse, Geschlecht oder sexueller Ausrichtung. Ja, Bürgerlichkeit ist anti-identitär. Dagegen haben sich rechts wie links aussen identitäre Bewegungen formiert. Rechts die «Identitären», wie sie sich teilweise selbst nennen, denen Schweiztum oder Deutschtum oder Weisssein als überlegen gelten. Links die Ideologen des Diversen, also der Identitäten im Plural, für die sich Anderssein zur Stammeskultur verdichtet, etwa zu People of Colour, zum Farbigsein oder Migrantsein oder Frausein oder Transsexuellsein.
Antibürgerlichkeit setzt darauf, dass gewisse Menschengruppen aufgrund ihrer Identität besondere Ansprüche gegenüber der Gesellschaft geltend machen können.
Bürgerlichkeit dagegen baut darauf, dass der einzelne Mensch als Individuum seine Position in der Gesellschaft selbst bestimmt: durch Leistung und Bildung und Engagement, also unbesehen seiner Zugehörigkeit zu irgendwelchen Gruppen.
Das ist der Kulturkampf, der sich gerade abspielt:
Aufklärung gegen Verdunkelung.