«Wir waren von Anfang an auf uns alleine gestellt»
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Familie nimmt Flüchtlinge auf:«Wir waren von Anfang an auf uns alleine gestellt»

Flüchtlings-Bürokratie!
Behörden machen Ukrainern und Gastfamilien das Leben schwer

Noch immer kommen pro Tag tausend Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz an. Das überfordert die Behörden. Der Unmut über langsame Verfahren steigt – bei Flüchtlingen und ihren Gastfamilien.
Publiziert: 08.04.2022 um 00:25 Uhr
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Aktualisiert: 08.04.2022 um 18:23 Uhr
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Familie Martin aus Witterswil SO nahm Mitte März Olga (36) sowie deren Söhne Artur (6) und Tymur (3) auf.
Foto: STEFAN BOHRER
Lea Hartmann, Sophie Reinhardt und Laura Montani

«Rasch und unbürokratisch» werde man den ukrainischen Flüchtlingen helfen, versprach Justizministerin Karin Keller-Sutter (58). Doch viele Geflüchtete und Gastfamilien haben in den vergangenen Wochen das Gegenteil davon erlebt.

Familie Martin aus Witterswil SO nahm Mitte März kurzfristig Olga (36) sowie deren Söhne Artur (6) und Tymur (3) auf. «Uns ging es darum, hilfesuchenden Menschen ein sicheres Daheim zu bieten», so Nicole Martin (42). Dennoch sei sie damals davon ausgegangen, dass ihre Gäste vom Bund finanziell bald unterstützt würden.

Familie kommt für alles auf

Doch bis heute hat Olga keinen Rappen vom Schweizer Staat gesehen, für sämtliche Kosten müssen derzeit die Martins aufkommen. Einzig einen Gutschein für den Dorfladen in der Höhe von 30 Franken hat die Ukrainerin erhalten. Dafür hat die Dorfbevölkerung zusammengelegt. «Jeden noch so kleinen Wunsch muss sie an uns herantragen, das ist nicht menschenwürdig», so Martins Vorwurf.

Olga, die in der Ukraine als Yogalehrerin arbeitete, liess sich kurz nach ihrer Ankunft im Bundesasylzentrum Basel registrieren. Über sechs Stunden wartete ihre Gastfamilie mit ihr. Eine Bescheinigung der Registrierung wurde vor Ort nicht ausgehändigt, wie sie erzählt. Doch genau auf eine solche pochte die Gemeindeverwaltung, damit sie sich hätte anmelden können. Und so bekam sie nicht einmal die Nothilfe von neun Franken pro Tag. Erst vor wenigen Tagen kam das Schreiben per Post an. «Olga erhält wohl erst in zwei Monaten Geld», befürchtet Nicole Martin.

Viele Flüchtlinge möchten in Zürich leben

Nicht nur die Flüchtlinge, auch viele Gastfamilien sind vom Bürokratie-Dschungel überfordert, durch den man sich kämpfen muss. Und sie sind enttäuscht, wie lange alles dauert. Bis zu drei Wochen müssen Geflüchtete laut Staatssekretariat für Migration (SEM) derzeit schon nur warten, bis sie den S-Status erhalten. In vielen Gemeinden können sie erst dann Sozialhilfe erhalten und haben vorher lediglich Anspruch auf Nothilfe – wobei nicht alle Flüchtlinge von dieser Möglichkeit wissen.

40 Prozent der Flüchtlinge wohnen in Gastfamilien

Noch immer kommen pro Tag etwa 1000 ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz an. Die Lage bleibe angespannt, sie beginne sich aber allmählich zu normalisieren, sagte David Keller, Leiter des Krisenstabs Asyl im Staatssekretariat für Migration (SEM), am Donnerstag.

Vor einer Woche standen nur noch rund 900 Betten als Reserve bereit, nun sind es etwa 2500. «Das lässt mich wieder etwas ruhiger schlafen», sagte Keller.

Auch die Kantone sind zuversichtlich. In kantonalen Unterkünften hat man derzeit laut der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren über 5000 freie Plätze. Man könne kurzfristig weitere Plätze schaffen, beispielsweise in Zivilschutzanlagen.

26'000 Flüchtlinge wurden bisher auf die Kantone verteilt. 40 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer kommen in einer Gastfamilie unter. (lha)

Noch immer kommen pro Tag etwa 1000 ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz an. Die Lage bleibe angespannt, sie beginne sich aber allmählich zu normalisieren, sagte David Keller, Leiter des Krisenstabs Asyl im Staatssekretariat für Migration (SEM), am Donnerstag.

Vor einer Woche standen nur noch rund 900 Betten als Reserve bereit, nun sind es etwa 2500. «Das lässt mich wieder etwas ruhiger schlafen», sagte Keller.

Auch die Kantone sind zuversichtlich. In kantonalen Unterkünften hat man derzeit laut der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren über 5000 freie Plätze. Man könne kurzfristig weitere Plätze schaffen, beispielsweise in Zivilschutzanlagen.

26'000 Flüchtlinge wurden bisher auf die Kantone verteilt. 40 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer kommen in einer Gastfamilie unter. (lha)

«Die Prüfung der Dossiers gehört zur Sorgfaltspflicht der Behörden», verteidigte Gaby Szöllösy von der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK) die Sozialämter am Donnerstag an der wöchentlichen Ukraine-Medienkonferenz von Bund und Kantonen. Zudem haben einige Flüchtlinge hohe Ansprüche an Unterkunft und Lebensstandard. Die Behörden stellen beispielsweise fest, dass sehr viele in der Stadt, ganz besonders in Zürich wohnen wollen – und nicht auf dem Land.

Diesen Wunsch kann der Bund nicht immer erfüllen, denn die Zürcher Behörden sind am Limit. Was das Tempo betrifft, hätten einige Kantone aber reagiert und sich so aufgestellt, dass sie sehr rasch auszahlen können, sagte Szöllösy. Ein Beispiel dafür ist das Wallis. Dort erhalten Schutzsuchende Sozialhilfe, sobald sie sich beim SEM registriert haben. Damit sie möglichst schnell Unterstützung erhalten, empfiehlt die SODK Flüchtlingen, sich möglichst schnell für den S-Status anzumelden.

Sozialhilfebeitrag variiert je nach Kanton

Eine Behörden-Odyssee hat auch Maria (35) hinter sich. «Viele werden von Amt zu Amt geschickt, weil Dokumente fehlen», sagt die Ukrainerin, die Anfang März in Zürich von einem Paar aufgenommen worden ist. Sie wisse von vielen Landsleuten, die über kein Erspartes mehr verfügten. Diese seien nun darauf angewiesen, dass ihnen Freiwillige aushelfen. Sie selbst habe den S-Status erhalten, weil sie an viele Türen geklopft habe und über Deutschkenntnisse verfüge.

Wenn die Flüchtlinge dann einmal Sozialhilfe erhalten, ist der Betrag, der ihnen ausbezahlt wird, sehr unterschiedlich. Am grosszügigsten sind Bern und Solothurn mit jeweils knapp 700 Franken Sozialhilfe monatlich für eine Einzelperson. Dieser sogenannte Grundbedarf muss für Lebensmittel, Kleider und andere Produkte des täglichen Bedarfs reichen, Krankenkassenprämien sind davon ausgenommen. In Zürich erhält ein Flüchtling rund 200 Franken weniger.

Hier finden Flüchtlinge und Gastfamilien Hilfe

Was muss ich tun, wenn ich in der Schweiz ankomme? Wo bekomme ich eine Schweizer SIM-Karte? Was, wenn ich eine Ärztin benötige? Auf der Website helloukraine.ch finden Ukrainerinnen und Ukrainer sowie auch Gastfamilien die wichtigsten Informationen zum Aufenthalt in der Schweiz.

Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren hat online zudem eine Liste mit den jeweiligen kantonalen Anlaufstellen veröffentlicht. Hier ist sie zu finden.

Was muss ich tun, wenn ich in der Schweiz ankomme? Wo bekomme ich eine Schweizer SIM-Karte? Was, wenn ich eine Ärztin benötige? Auf der Website helloukraine.ch finden Ukrainerinnen und Ukrainer sowie auch Gastfamilien die wichtigsten Informationen zum Aufenthalt in der Schweiz.

Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren hat online zudem eine Liste mit den jeweiligen kantonalen Anlaufstellen veröffentlicht. Hier ist sie zu finden.

Im Aargau muss man mit nur 290 Franken pro Monat auskommen, in Obwalden sogar mit nur 90 Franken. Allerdings gelte dieser Betrag nur, wenn die Flüchtlinge durch die Gastfamilie verpflegt würden, betont der Kanton. Zudem erhielten die Ukrainerinnen kostenlos Kleider. Muss sie sich selbst Nahrungsmittel kaufen, bekommt eine Geflüchtete in Obwalden 321 Franken pro monatlich. In Appenzell Ausserrhoden erhält ein Flüchtling laut Gesetz 1.30 Franken pro Tag für Bekleidung und Schuhe.

Nicht überall werden Gastfamilien entschädigt

Je grösser eine Familie, desto geringer in der Regel die Unterstützung pro Person. Eine Familie mit zwei Kindern erhält in Bern 1489 Franken pro Monat für den Grundbedarf. In einer Gastfamilie in Obwalden sind es 360 Franken.

Auch die Gastfamilien werden je nach Kanton ganz unterschiedlich entschädigt – wenn überhaupt. In Luzern gibts nichts, während eine Gastfamilie im Nachbarkanton Aargau für die Aufnahme einer vierköpfigen Familie 1080 Franken erhält. Einige Kantone wie Zürich, Thurgau und St. Gallen überlassen es den Gemeinden.

Für viele Betroffene ist es unverständlich, dass es in jedem Kanton anders läuft. Sie könne nicht nachvollziehen, warum ihre ehemalige Nachbarin in der Ukraine, die nun in Basel unterkam, schon Geld ausbezahlt bekommen habe, sagt Swetlana (29), eine weitere Ukrainerin, mit der Blick gesprochen hat. Sie halte sich derweil seit Wochen in Zürich mit Migros-Gutscheinen über Wasser – und ist ernüchtert: «Ich bin nicht nur dem Krieg in meiner Heimat ausgeliefert, sondern auch dem Schweizer System, das ich nicht verstehe.»

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