SonntagsBlick: Herr Burkart, etwas mehr als die Hälfte der Legislatur ist um. Das Verhältnis zur EU ist an einem Tiefpunkt, im Sommer scheiterte mit dem CO2-Gesetz der grosse Kompromiss in der Umweltpolitik und am letzten Sonntag verloren Bundesrat und Parlament gleich drei Vorlagen. Ist diese Legislatur noch zu retten?
Thierry Burkart: Diese Gegebenheiten haben unterschiedliche Ursachen und sollten darum nicht in einen Topf geworfen werden. Fakt aber ist: Wir stecken in einem Reformstau. Die Politik in diesem Land hat verlernt, das Dach zu flicken, bevor es zu regnen beginnt. Wir leisten uns eine Uneinigkeit, die das internationale Umfeld eigentlich nicht mehr zulässt.
Eben – eine Legislatur zum Vergessen.
Das geht mir zu weit, weil es auch viele Lichtblicke aus Sicht der FDP gab. Zudem stehen noch grosse Projekte an, die durchaus Chancen haben. Die AHV-Reform oder die Reform der beruflichen Vorsorge zum Beispiel.
Gegen die AHV-Reform brachte die Linke in Rekordzeit das Referendum zustande.
Das motiviert uns umso mehr, um für eine Annahme dieser absolut zentralen Reform unserer Vorsorge zu kämpfen. Sie ist ein wichtiger Schritt hin zu einer soliden Finanzierung unseres wichtigsten Sozialwerks. Was aber stimmt, ist, dass wir uns immer schwerer tun, breite Kompromisse von rechts bis links zu schliessen, die dann vor dem Volk bestehen können.
Thierry Burkart begann seine poli-tische Karriere im Jungfreisinn. Ab 2001 sass er im Grossen Rat des Kantons Aargau, zwischen 2010 und 2013 präsidierte er die Kantonalpartei. 2015 gelang Burkart der Sprung in den Nationalrat. 2019 wählten ihn die Aargauer in den Ständerat. Seit vergangenem Oktober präsidiert der Rechtsanwalt die FDP Schweiz.
Thierry Burkart begann seine poli-tische Karriere im Jungfreisinn. Ab 2001 sass er im Grossen Rat des Kantons Aargau, zwischen 2010 und 2013 präsidierte er die Kantonalpartei. 2015 gelang Burkart der Sprung in den Nationalrat. 2019 wählten ihn die Aargauer in den Ständerat. Seit vergangenem Oktober präsidiert der Rechtsanwalt die FDP Schweiz.
Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Die Linke erfährt eine ähnliche Fragmentierung, wie sie die Bürgerlichen in den Neunzigerjahren erlebten. Die Grünen treiben die SP vor sich her. Nehmen Sie das Referendum gegen Frontex: Die SP ist plötzlich bereit, dass die Schweiz aus Schengen-Dublin ausgeschlossen und damit das bilaterale Verhältnis zur EU zerstört wird. Das ist der Druck der Grünen. Dass die Grünen gegen die EU-Integration sind, ist nicht neu. Aber diese Radikalisierung der SP-Positionen ist schon erstaunlich. Dazu kommt ein unglaublicher Drang nach Profilierung, sowohl in den klassischen als auch in den sozialen Medien. Gerne garniert mit Kritik an den vermeintlichen Eliten und einer kruden Skepsis gegenüber freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Lösungen.
Mit welchen Folgen?
Wenn man sich noch während der Kompromissfindung ins Scheinwerferlicht stellt, verhärten sich die Fronten. Die frühzeitige Positionierung auf Social Media ist der Kompromissfindung abträglich. Alles ist immer ein Skandal, alle sind stets empört. Kommt doch eine Lösung zustande, dann ist die Vorlage oft überladen, weil alle bedient werden sollen. Das gescheiterte Medienpaket ist nur das jüngste Beispiel.
Ihre ersten Monate an der Spitze der FDP zeigen: Sie entziehen sich diesem Spiel ja auch nicht.
Es ist tatsächlich eine Gratwanderung zwischen einer klaren Positionierung der FDP rechts der Mitte und einer staatstragenden, kompromissbereiten Partei. Am Schluss muss aber immer das Interesse unseres Landes im Vordergrund stehen, dazu gehören in unserem System auch Kompromisse.
Gratwanderung auch deshalb, weil die Macht der Wirtschaftsverbände, Ihrer natürlichen Verbündeten, schwindet?
Die Wirtschaft und ihre Verbände haben an Glaubwürdigkeit eingebüsst. Das liegt auch daran, dass sich zu wenige Leute aus der Wirtschaft persönlich in der Politik engagieren. Sie müssen zeigen, dass es ihnen um mehr geht als ihre Gewinne, sondern um unser Land. Das ist mein Aufruf an die Unternehmer: Engagiert euch, zeigt Flagge!
Geht es ihnen denn wirklich um so viel mehr als «nur» um den Gewinn?
Sicher! Aber das schlechte Image der Wirtschaft, das in dieser Frage mitschwingt, macht mir Sorgen. Wir haben zu einem guten Stück vergessen, wo unser Wohlstand herkommt und dass dieser Wohlstand auf guten Rahmenbedingungen für die Unternehmen gründet. Sie sind es, die für uns alle Arbeitsplätze schaffen und zudem einen zentralen Beitrag zur Finanzierung aller öffentlichen Dienstleistungen leisten.
Sprechen wir über Rahmenbedingungen. Der Bund warnt bereits für 2025 vor einer Strom-Mangellage. Diese Woche kündigte Bundesrätin Simonetta Sommaruga den Bau von Gaskraftwerken an. Ist die Energiestrategie fünf Jahre nach der Abstimmung bereits gescheitert?
Langfristig können wir die Ziele der Energiestrategie womöglich erreichen. Aber die Lücke droht jetzt. Das heisst, es braucht schnelle Massnahmen. Die Energiestrategie hat immer auch darauf basiert, dass Gaskraftwerke die Lücke schliessen müssen. Dieser Umstand wurde dann in der politischen Debatte unter den Tisch gekehrt.
Was auch in die Verantwortung des Bundesrats fällt. Wie gut funktioniert der Bundesrat momentan?
Im Grossen und Ganzen funktioniert die Zusammenarbeit. Doch zeigen gerade die vielen Indiskretionen, dass der Drang zur persönlichen Profilierung auch vor dem Bundesrat keinen Halt macht. Das gefährdet die freie Diskussion und stellt das Kollegialitätsprinzip infrage.
Und das ist ein gravierendes Problem?
Leidet das Kollegialitätsprinzip, schadet das dem Gremium. Die Bundesräte orientieren sich wieder stärker an ihren Parteien, statt die gemeinsam gefällten Beschlüsse geschlossen zu vertreten. Das muss zwingend besser werden.
Klingt schön, der Bundesrat bleibt trotzdem den Parteistärken entsprechend zusammengesetzt.
Wenn jeder nur seine Parteimeinung einbringt, können wir den Bundesrat gleich abschaffen. Er darf nicht zu einem kleineren Parlament werden. Die Unabhängigkeit der Bundesräte ist essenziell für das Funktionieren dieser Institution.
Inwiefern spielt dabei die Bundesratswahl in knapp zwei Jahren bereits eine Rolle?
Der Wert des Bundesrats hängt daran, dass seine Mitglieder nicht per Misstrauensvotum aus dem Amt gewählt werden. Man wählt grundsätzlich keine Bundesräte ab, das sollten wir 2023 beibehalten.
Selbst wenn sich die Parteistärken nochmals verschieben?
Ja. Denn sitzt eine Partei mehr im Bundesrat, macht das die Lösungsfindung sicher nicht einfacher.
Eine praktische Argumentation. Ihre Partei steht unter Druck, einen ihrer Bundesratssitze an die Grünen abzugeben.
Das wäre ein massiver Linksrutsch. Das kann man wollen, ich sicher nicht. Und ich bezweifle, dass die SVP und die Mitte daran ein Interesse haben. Zudem hat die FDP im Kanton Freiburg und in den Städten Winterthur und Zürich zugelegt. Ich gehe davon aus, dass der Druck, einen Sitz abzugeben, für die SP akuter sein wird als für uns.
Die bürgerliche Mehrheit könnte den Grünen einen SP-Sitz geben. Keine Versuchung für Sie?
SP und Grüne sind ideologisch deckungsgleich. Das Gedankengut der Grünen ist sehr wohl im Bundesrat vertreten. Die SP hat als Partei aber eine wichtige Tradition im Bundesrat.
Schwer zu glauben, dass die Bürgerlichen bereits heute der SP ihre beiden Bundesräte garantieren.
Ich kann nicht sagen, was in anderthalb Jahren sein wird. Aber die SP ist eine Partei, die im ganzen Land fest verankert ist, vom Bund, über die Kantone bis in die Gemeinden. Eine Volkspartei im besten Sinne. Wenn ich wählen muss zwischen einem Vertreter einer Volkspartei und einer Partei mit Bewegungscharakter wie den Grünen, dann ist mir die Stabilität wichtiger. Und zu dieser Stabilität trägt die SP mehr bei.
Das wird die SP sicher freuen, wenn sie fleissig Unterschriften für ihre Referenden und Initiativen sammelt.
Ich bin von ganzem Herzen Demokrat. Es stimmt jedoch, die Volksrechte waren einmal als Korrektiv zu Parlament und Bundesrat gedacht und nicht als Marketingvehikel für Parteien.
Sind die Hürden für Referenden und Initiativen zu tief?
Es braucht noch immer gleich viele Unterschriften wie zu jener Zeit, als die Schweizer Bevölkerung halb so gross war, nur die Männer abstimmen durften und keine Internetplattformen zur Mobilisierung zur Verfügung standen. Umso mehr müssen Parteien und Verbände mit den Volksrechten sorgsam umgehen.