Es ist eine Szene, die vielen Eltern bekannt vorkommen dürfte: Das Kind wirft sich an der Coop-Kasse weinend auf den Boden, weil es gerne etwas Süsses hätte, es aber nicht bekommt. Wie handelt man in so einer Situation, ohne sich von den missbilligenden Blicken der Umstehenden aus der Ruhe bringen zu lassen?
«Eltern sind in so einem Moment meistens stark gefordert», sagt Linda Steiner, Kursleiterin von «Starke Eltern – Starke Kinder», einem Elternkurs der Stiftung Kinderschutz Schweiz. Der Grund: die gesellschaftliche Erwartung, dass Kinder sich zu benehmen hätten.
In den Kursen werden Werkzeuge vermittelt, die dabei helfen sollen, Situationen wie jenen vorzubeugen und sie gewaltfrei zu lösen. Ihre Kurse seien gut besucht, sagt Steiner. Viele der Eltern wollten vermeiden, dass es in der Erziehung zu Gewalt komme.
Fast die Hälfte aller Kinder erfährt Gewalt
Tatsächlich aber wendet fast die Hälfte der Schweizer Eltern in der Erziehung körperliche oder psychische Gewalt gegen die Kinder an. Das hat eine Umfrage der Universität Freiburg ergeben. Von den 1013 befragten Eltern gaben 40 Prozent an, schon einmal eine Körperstrafe angewendet zu haben. Auch psychische Gewalt kommt häufig vor: Fast jeder sechste Elternteil gab an, diese etwa in Form von Beschimpfungen oder Liebesentzug regelmässig anzuwenden.
Die Befragung zeigte auch, dass die Rechtslage vielen Eltern nicht klar ist. Psychische Gewalt hielten die befragten Eltern eher für legal. Anders bei körperlicher Bestrafung: 95 Prozent der Mütter und 89 Prozent der Väter meinten, dass diese verboten sei.
Rechtslage ist unklar
Die Rechtslage ist allerdings unklar. In der Schweiz gilt grundsätzlich kein Züchtigungsverbot. Kinder stehen zwar unter dem Schutz des Strafrechts – bestimmte Körperverletzungen werden geahndet –, allerdings gibt es kein explizites Verbot von Körperstrafen, die nicht zu sichtbaren Schäden führen.
Auch das Bundesgericht sieht körperliche Züchtigung im Rahmen der Familie nicht als physische Gewaltakte an, wenn sie ein gewisses von der Gesellschaft akzeptiertes Mass nicht überschreitet und die Bestrafung nicht allzu häufig wiederholt wird.
Das schafft Rechtsunsicherheiten. Deshalb plädieren Organisationen wie Kinderschutz Schweiz seit Jahren dafür, dass das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Gesetz verankert wird. «In Nachbarländern sieht man, dass ein solches Gesetz dazu geführt hat, dass die Gewalt an Kindern zurückgegangen ist», so Regula Bernhard Hug, Leiterin von Kinderschutz Schweiz. Von der Uno wurde die Schweiz wegen Fehlens eines solchen Gesetzes schon mehrfach gerügt: Sie verstosse gegen die von ihr unterzeichnete Kinderrechtskonvention.
Motion will gewaltfreie Erziehung im ZGB verankern
Politisch ist ein solches Gesetz allerdings umstritten. Viele Anläufe sind bereits im Parlament gescheitert. Und auch der Bundesrat hat sich bisher quergestellt – mit der Begründung, dass das Strafgesetz bereits Schutz genug biete. Auch warnt er vor staatlichem Interventionismus in der Kindererziehung.
Gewalt an Kindern
Davon lässt sich die Freiburger Mitte-Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach (63) nicht beirren. Sie fordert in einer Motion, dass die gewaltfreie Erziehung im Zivilgesetzbuch (ZGB) verankert wird. Heute wird der Vorstoss von der Rechtskommission des Ständerats behandelt.
Es braucht Klarheit
Ein Gesetz im ZGB würde Klarheit schaffen und die «nicht mehr haltbare Ansicht, dass es ein notwendiges Mass an Gewalt in der Erziehung brauche, korrigieren», so Bulliard-Marbach. Sie ist davon überzeugt: Wenn körperliche Gewalt explizit verboten würde, würde dies auch zu einer Änderung im Erziehungsverhalten führen. Und: Je weniger Gewalt Kinder erfahren würden, desto weniger würden sie diese als Erwachsene reproduzieren.
Auch Linda Steiners Kurse fangen immer erst bei den Eltern und ihrer eigenen Geschichte an: «Die Eltern setzen sich zuerst mit ihrer Kindheit und den Werten, die ihnen vermittelt wurden, auseinander.» Wie sie mit Konfliktsituationen umgehen können, wird gegen Ende des Kurses besprochen. Dann sei den Eltern bereits bewusster, wie sie mit ihren eigenen Bedürfnissen und Gefühlen und denen ihrer Kinder umgehen könnten. Und das kann zu Erfolgserlebnissen führen: wie dem einer Kursteilnehmerin, die Steiner erzählte, wie sie im Laden während zehn Minuten neben ihrem schreienden Kind gesessen sei und es getröstet habe. Ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen.