Buch für Kinder und ihre Eltern
Wieso sexualisierte Gewalt mit «F*** dich!» beginnt

Ein neues Kinderbuch der Berner Opferberaterin Agota Lavoyer soll Kinder und Eltern für das Thema sexualisierte Gewalt sensibilisieren. Für die Autorin beginnt dieser Prozess bereits bei der Sprache.
Publiziert: 09.06.2022 um 09:09 Uhr
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Agota Lavoyer (41) aus Bern ist Spezialistin für sexuelle Gewalt. Jetzt hat die Mutter von vier Kindern zu ihrem Fachgebiet ein Buch geschrieben.
Foto: Timo Orubolo
Jonas Dreyfus

Soll man beim Kitzeln aufhören, wenn jemand Nein sagt? Findest du es okay, wenn Erwachsene Kinder auf den Mund küssen? Sind Beschimpfungen wie «F*** dich!» sexualisierte Gewalt? Fragen wie diese stellt die Bernerin Agota Lavoyer (41) in ihrem sogenannten Kinderfachbuch «Ist das okay?», das am 13. Juni erscheint. Es richtet sich an Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren, an ihre Eltern und andere Bezugspersonen.

Lavoyer ist Spezialistin für sexuelle Gewalt und hat jahrelang Opfer beraten. Manche der Fragen aus dem Buch lässt die Mutter von vier Kindern offen, weil sie individuell und situationsabhängig seien, wie sie sagt. Andere – zum Beispiel die «F*** dich!»-Frage – beantwortet sie ganz konkret. Ja, Beschimpfungen wie diese seien sexualisierte Gewalt, weil Sexualität benutzt werde, um andere abzuwerten – unabhängig davon, ob die Kinder verstehen würden, was sie sagen.

Eltern und Lehrpersonen rät Lavoyer, dem Kind zu erklären, warum sie solche Wörter nicht tolerieren. «Damit leisten sie einen Beitrag zur Prävention sexualisierter Gewalt.» Die Sensibilisierung dafür beginnt gemäss Lavoyer nämlich schon bei der Sprache. «Wenn wir es unkommentiert zulassen, dass schon Kinder die Sexualität benutzen, um Menschen zu verletzen, abzuwerten und zu demütigen, dann lassen wir zu, dass ein idealer Nährboden angelegt wird für massivere sexualisierte Gewalt.»

Täter überschreiten Grenzen ihrer Opfer langsam

In der Gesellschaft herrsche eine grosse Sprachlosigkeit, wenn es um diese Themen gehe, sagt Lavoyer. Oftmals werde sexualisierte Gewalt nicht mal im Rahmen der Sexualaufklärung abgehandelt. Man lehre die Kinder höchstens, dass sie Nein sagen dürfen, wenn ihnen etwas unangenehm ist, sagt Lavoyer. «Doch selbst als erwachsene Frau weiss ich, wie viel Überwindung es zum Beispiel kostet, im Bus jemandem zu sagen, er soll nicht so nahe an mich heransitzen.»

Kinder würden diesbezüglich überschätzt, sagt Lavoyer. Sexualisierte Gewalt beginne oft damit, dass Kindern besondere Zuneigung geschenkt bekämen und die Grenzen dann langsam überschritten würden. «Selbst die aufgeklärtesten unter ihnen haben keine Chance, wenn eine erwachsene Person sie manipuliert.»

Zudem seien 97 Prozent aller Täter keine Fremden, sondern Familienmitglieder oder Vertrauenspersonen wie Fussballtrainer, Musiklehrer, Nachbarn. Umso wichtiger sei es, sagt Lavoyer, dass Kinder sich Erwachsenen anvertrauen können. «Das tun sie nur, wenn ihre Eltern wiederholt über sexualisierte Gewalt mit ihnen sprechen und eine klare Haltung dazu haben.»

Gibt es in der Kinderkrippe ein Schutzkonzept?

Doch wie redet man kindgerecht über sexualisierte Gewalt? «Eingebettet in den Alltag», sagt Lavoyer. Sie habe ihren Sohn zum Beispiel einmal gefragt, als er auf dem Weg in die Dusche war, ob er es okay fände, wenn sie jetzt mit ihm duschen würde. «Er war damals neun Jahre alt. Wir führten ein kurzes Gespräch darüber, dass es weder für mich noch für eine andere erwachsene Person einen guten Grund dafür gibt, mit ihm zu duschen, und dass ich auch nicht will, dass er das tut.»

Wird man als Elternteil nicht paranoid, wenn man überall Gefahren lauern sieht? Es gehe nicht darum, alle Erwachsenen unter Generalverdacht zu stellen, sagt Lavoyer. «Schliesslich beutet nur ein kleiner Teil von ihnen Kinder sexuell aus.» Wichtig sei es, sich Wissen anzueignen im Umgang mit sexueller Gewalt und nicht wegzuschauen. Lavoyer empfiehlt Eltern, die ihre Kinder fremdbetreuen lassen, zum Beispiel nach Schutzkonzepten zu fragen. Dazu gehört zum Beispiel, dass der Wickeltisch in der Kinderkrippe so positioniert ist, dass immer mehrere Betreuungspersonen das Kind, das auf ihm liegt, im Blickfeld haben.

«Leider sehen wir nicht in die Köpfe von Menschen hinein», sagt Lavoyer. Sie vertraue den Menschen in ihrem Umfeld, würde aber für niemanden die Hand ins Feuer legen. «Sobald ich mir hundertprozentig sicher bin, dass eine Person so etwas nie tun würde, verschliesse ich mich vor den Hilferufen potenzieller Opfer.»

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