ETH-Forscherin Sibylle Wälty sagt, was wir bisher falsch gemacht haben
«Wir verbauen uns die Zukunft»

Neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohner in der Schweiz! Doch wo sollen die alle wohnen? Architektin und ETH-Forscherin Sibylle Wälty sagt, was wir bisher falsch gemacht haben – und wo es noch Luft nach oben gibt.
Publiziert: 10.10.2023 um 12:07 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2024 um 08:55 Uhr
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«Hier hätte man mehr Wohnungen bauen müssen, auch kostengünstige», sagt Sibylle Wälty über die Zürcher Europaallee.
Foto: Kurt Reichenbach
Lynn Scheurer
Schweizer Illustrierte

Frau Wälty, auf wie vielen Quadratmetern wohnen Sie?
Ich lebe mit meiner Familie zu dritt auf 70 Quadratmetern in einem Mehrfamilienhaus in Baden. Wir haben ein Wohnzimmer, eine Küche, zwei Schlafzimmer, ein Büro und ein Bad. Aber weder Balkon noch Lift.

Haben Sie sich bewusst für eine kleine Wohnung entschieden?
Meine Ansprüche ans Wohnen sind sehr niedrig, dafür wohnen wir günstig. Würden wir hier etwas anderes wollen, müssten wir für mehr Fläche und Annehmlichkeiten deutlich mehr Miete zahlen. Dazu bin ich nicht bereit.

Darf man auch etwas höhere Ansprüche ans Wohnen haben?
Natürlich, das ist auch eine Frage des Portemonnaies. In der Schweiz können sich viele Leute viel leisten. Wir leben heute im Schnitt auf 50 Prozent mehr Wohnfläche als noch vor 60 Jahren.

Das ist Sibylle Wälty

Die 46-jährige Raumentwicklungswissenschaftlerin ist Mutter einer elfjährigen Tochter, forscht und lehrt unter anderem am ETH Wohnforum und berät seit 2023 mit ihrem Start-up Resilientsy die Immobilien- und Raumplanungsbranche.

Die 46-jährige Raumentwicklungswissenschaftlerin ist Mutter einer elfjährigen Tochter, forscht und lehrt unter anderem am ETH Wohnforum und berät seit 2023 mit ihrem Start-up Resilientsy die Immobilien- und Raumplanungsbranche.

Warum beklagen sich dann so viele über den Dichtestress?
Weil sie den Dichtestress auf der verstopften Strasse und im vollen ÖV erleben und nicht zu Hause.

Hier an der Zürcher Europaallee sind zwischen den Hochhäusern auch gerade sehr viele Leute unterwegs. Wird es in Zukunft überall so aussehen wie hier?
Nein. Und ich glaube, auch diejenigen, die die Europaallee einst entworfen haben, würden sie nicht mehr so bauen.

Warum?
Man hätte viel mehr Wohnungen gebaut, auch kostengünstige. Sehen Sie sich dieses Haus hier an: Es hat 15 Stockwerke. An dieser Lage könnten es gut doppelt so viele sein. Und den Freiraum drumherum würde man heute auch nicht mehr so stark versiegeln, damit sich die Stadt nicht aufheizt.

Was wäre denn anders, wenn es hier mehr Wohnungen gäbe?
Der Ort wäre belebter – auch am Sonntag. Für Kinder wäre es ihre Nachbarschaft, sie würden hier spielen. Wegen den vielen Büros wird hier nun primär gearbeitet.

Warum baut man so oft reine Schlaf- oder Arbeitsquartiere?
Die Schweizer Städte sehen sich als Wirtschaftsmotoren. Darum bauen sie viele Büros.

Artikel aus der «Schweizer Illustrierten»

Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

Dabei fehlt es doch gerade in den Städten an Wohnungen!
Genau. Denken Sie an den Prime Tower in Zürich. Für jedes Bürohochhaus wie dieses müsste man auch genügend Wohnungen bauen, am besten grad in der Nähe.

Müssen die Leute denn so nah an ihrem Arbeitsplatz wohnen?
Die statistischen Daten zeigen: Je dichter ein Ort besiedelt ist, desto kürzer sind die Wege im Alltag.

Und was ist der Vorteil daran?
Eine Nachbarschaft, in der man Jobs, Wohnungen, Restaurants, Läden, Fitnessstudio, Haltestelle und vieles mehr für seinen Alltag und seine Freizeit findet, spart uns viel Zeit und meistens auch das Auto. Das heisst, man steckt nicht mehr im überfüllten ÖV oder auf der Strasse im Stau fest.

Gibt es schon Gegenden, in denen alles zu Fuss erreichbar ist?
Ein Beispiel ist der Idaplatz in Zürich. Dort leben 15 000 Einwohner in einem Radius von 500 Metern. Dazu kommen 7500 Personen, die dort arbeiten. Das ergibt eine Stadt in der Stadt, eine Zehn-Minuten-Nachbarschaft. In ihr ist innerhalb von zehn Gehminuten das meiste für den Alltag erreichbar, teilweise eben auch der Arbeitsplatz.

Sibylle Wälty will, dass Städte «wirklich verdichtet» bauen. «Ziel ist doch eine weniger zersiedelte Schweiz.»
Foto: Kurt Reichenbach

Aber es möchten doch gar nicht alle Menschen in die Stadt ziehen und so dicht beieinander wohnen wie am Idaplatz.
Nicht alle, das stimmt. Aber sehr viele würden gern so wohnen, wenn sie denn überhaupt könnten! Die Nachfrage nach Wohnungen an solchen Orten ist ungebrochen hoch.

Und was ist mit dem klassischen Traum eines Einfamilienhäuschens irgendwo in einem grünen Vorort oder auf dem Land?
Diesen Traum gibt es natürlich immer noch. Doch er wird der Kostenwahrheit nicht gerecht.

Wie meinen Sie das?
Wer im Grünen lebt, verursacht Kosten, die er nicht vollumfänglich selber trägt. Für den Bau und den Unterhalt von Strassen zum Beispiel oder für Wasser- und Stromanschlüsse. Für diese Kosten werden auch jene zur Kasse gebeten, die in der Stadt wohnen. Das geht oft vergessen.

Die Schweiz hat erstmals über neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Wie können wir alle gut unterbringen?
Wir dürfen auf jeden Fall nicht so weitermachen wie bisher.

10-Millionen-Schweiz: Wie viele Menschen haben noch Platz?

Warum?
Die Städte haben über Jahrzehnte zu wenig Wohnraum an zentralen Standorten zugelassen. Das hat dazu geführt, dass die Menschen auf das Land oder in die Vororte ausgewichen sind. Dort wurde viel Boden verbraucht – für verhältnismässig wenige Personen. Wenn die Städte wirklich verdichtet bauen, würde das die Zersiedelung stoppen, den Verkehr reduzieren und das Wohnen günstiger machen.

Also sind die Stadtplaner schuld an diesem Teufelskreis?
Unser Raumplanungsgesetz verlangt einen haushälterischen Umgang mit dem Boden. Mit meiner Forschung versuche ich zu zeigen, wie wir dieses Gesetz auch wirklich vollziehen können. Deshalb berate ich mit meiner Firma Grundstückbesitzer und auch Städte.

Sie sagen, man hätte hier an der Europaallee viel höhere Hochhäuser bauen sollen. Doch solche Wolkenkratzer lösen in der Schweiz viel Ablehnung aus.
In Manhattan gehören sie zum Stadtbild, aber wir sind sie nicht gewohnt. Hochhäuser kennen wir meist nur als Bürotürme oder dann als Wohntürme am Rand einer Stadt.

Braucht es denn wirklich solche Hochhäuser, um die Wohnungsnot zu lösen?
Ich sehe das differenziert. Hochhäuser können eine super Option sein, um auf sehr wenig Fläche sehr viel Wohnraum zu schaffen.

Aber sie verändern ein Stadtbild massiv.
Wir verändern uns als Gesellschaft. Ziel ist doch eine nachhaltige und weniger zersiedelte Schweiz. Und seien wir ehrlich: Das Stadtbild verändert sich bereits mit einem einzigen Hochhaus. Solche Gebäude sollten deshalb an gut erschlossenen Lagen als Ensemble entstehen. Wenn man den Bau eines Bürohochhauses zulässt, sollte man vier bis fünf Wohnhochhäuser dazustellen.

Senioren verbrauchen im Schnitt mehr Wohnfläche als andere. Müssten die sich nicht mal einschränken?
Sehr viele würden wechseln, wenn sie gute Alternativen hätten.

Was heisst das?
Eine Wohnung, die zwar kleiner, aber altersgerecht ist. Und bei der sie nicht plötzlich viel mehr Geld für viel weniger Platz zahlen müssen.

Brauchts Senioren-Hochhäuser?
Nein, aber mehr Wohnungen an zentralen Lagen. Mit Beck und Café im Erdgeschoss, dem Arzt im Haus und drumherum Bänkli und einem Park.

Ihre Forschung ergab, dass in der Schweiz auf der gleichen Siedlungsfläche nicht nur neun, sondern sogar 16 Millionen Menschen Platz hätten. Wirklich?
Es ist alles eine Frage der Planung und dessen, wie man den Boden nutzt. Bisher haben wir unseren Boden nicht optimal genutzt und verbauen uns buchstäblich die Zukunft. Heute leben gerade mal fünf Prozent der Schweizer in Zehn-Minuten-Nachbarschaften, dabei könnten es mit angepassten Siedlungsstrukturen viel mehr sein. Klar ist: Der Druck wird zunehmen. Ich bin deshalb gespannt, wie wir mit der nächsten Million Einwohner umgehen werden

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