Asylpolitik ist ein Dauerbrenner – der Migrationsdruck steigt und steigt, mit finanziellen und sozialen Kosten für die Gesellschaft. Die 90'000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die seit dem russischen Überfall hier Zuflucht suchen, verschärften die Lage zusätzlich.
Der Bund hat 2023 zwar die Zahl der Mitarbeitenden im Asylbereich aufgestockt, von 656 auf 833. Doch der Effekt ist bescheiden: Wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) SonntagsBlick mitteilt, wuchs der Berg unerledigter Asylgesuche auf mittlerweile 15'800. Das ist ein neuer Spitzenwert. Im Frühling waren es noch 13'000.
Öffentlich wird das Thema von der SVP und anderen Kräften befeuert. Im Visier haben sie auch die zuständige Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (59), die gerade ein Jahr im Amt ist.
Wer jedoch kaum Gehör findet, sind die Leute an der Migrationsfront. SonntagsBlick hat mehrere Gespräche mit Beamten geführt, die an einem der SEM-Standorte im Land Asylentscheide fällen. Aus naheliegenden Gründen können ihre Äusserungen nur anonym wiedergegeben werden.
Der Befund ist besorgniserregend. «Es herrscht Ausnahmezustand», sagt ein Informant. «Manche Kollegen sind am Anschlag. Wir kommen nicht einmal damit nach, die Asylentscheide zu verfassen. Von den unbearbeiteten Fällen, die sich stapeln, gar nicht zu reden.»
Rekord von 15'800 unbearbeiteten Asylgesuchen
Überstunden sind an der Tagesordnung. Erzwingen kann sie ein staatlicher Arbeitgeber nicht. «Die meisten machen das freiwillig und arbeiten auch über das Wochenende», berichtet ein Mitarbeiter, «das war schon bei der Flüchtlingskrise 2015 so und jetzt seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs.»
Als sozial «verheerend» bezeichnet einer die Auswirkung der vielen Pendenzen: «Es gibt Personen, die über ein Jahr auf ihre Anhörung warten. In dieser Zeit lungern sie irgendwo herum, es sind in diesem Status weder Integrationsmassnahmen noch sonst eine Beschäftigung möglich. Das ist ungut für die Gesellschaft, für den Staat und auch für die Asylsuchenden selber.»
Den Rekord von 15'800 unbearbeiteten Asylgesuchen kommentiert das SEM gegenüber SonntagsBlick so: «Das hat vor allem mit der anhaltend hohen Zahl neuer Asylgesuche zu tun. Das SEM konnte seine Ressourcen in den letzten Monaten in diesem Bereich zwar ausbauen, aber diese reichen aktuell nicht aus, um die Zahl zu reduzieren.»
Der Niederlassung der Behörde in Zürichs Industriequartier ist in einem schmucklosen Bürogebäude untergebracht, zwischen der hippen Kunsthochschule und dem Sitz des Schuhherstellers On.
Angeschrieben ist die Stelle bescheiden. Jeder, der Asyl beantragen möchte, kann hier eintreten – und der Prozess beginnt: Zuerst werden dem Antragstellenden Ausweise, Geld und Beweismittel abgenommen. Dann stellt der Staat ihm oder ihr einen Rechtsvertreter zur Seite. Der rät seinen Mandanten, alles so schnell wie möglich einzugeben. Allenfalls landet die Person im vorgelagerten Dublin-Verfahren. Dabei wird geprüft, ob ein Drittland, aus dem er oder sie anereist ist, für den Fall zuständig ist. Das betrifft grob die Hälfte der Entscheide.
Auch in Gemeinden und bei Privaten entstehen Kosten
Die andere Hälfte kommt in das sogenannte erweiterte Verfahren, bei dem diverse Massnahmen wie etwa eine Botschaftsanhörung oder ein psychiatrisches Gutachten ins Spiel kommen.
Für die Beamten bedeutet jeder neue Fall den Beginn einer Recherche, sie spielen quasi die Rolle von Ermittlern. Ein Gesprächspartner drückt es so aus: «Wir versuchen, für einen korrekten Asylentscheid möglichst viele verwertbare Informationen zu sammeln.»
Es komme nicht selten vor, dass Gesuchsteller weder Papiere noch einen Ausweis oder andere Dokumente dabeihaben. «Dann wird die Anhörung zum zentralen Element des Asylverfahrens: Glaubt man dem Gegenüber? Sind seine Ausführungen plausibel?»
Je nach Herkunftsland zeigen sich verschiedene Muster: «Bei den Afghanen etwa geht es eher rasch. Die kommen oft ohne irgendwelche Papiere. Wir nehmen die Personalien auf, die sie uns angeben, und protokollieren die Gründe. Später schicken wir sie raus.»
Was mit «rausschicken» gemeint ist: Die Antragstellenden werden auf die Gemeinden verteilt. Dort kommen dann Sozialbehörden, Fürsorge, Schulbehörden, Lehrer, Integrationshelfer, Psychologinnen, Berufsberater und Sonderpädagogen zum Einsatz. Bekannt ist das SEM-Budget, das sprunghaft auf nunmehr fast vier Milliarden Franken angestiegen ist. Aber niemand kennt die gesamten Kosten des Asylwesens für den Bund, für die 26 Kantone, für die mehr als 2000 Gemeinden und alle auf privater Ebene.
Standortnachteil für die Schweiz
Das moderne Flüchtlingswesen entstand aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Das individuelle Recht auf Asyl ist heute einer der Grundpfeiler unseres Verständnisses der Menschenrechte. Und doch ist der politische Druck so hoch wie noch nie.
Die Uno schätzt die Anzahl Geflüchteter und Vertriebener weltweit auf rund 100 Millionen. In westlichen Gesellschaften triumphieren migrationskritische Politiker. Jüngstes Beispiel ist der Wahlsieg des Niederländers Geert Wilders (60) und seiner Freiheitspartei am vergangenen Sonntag.
Unter den Staaten ist quasi ein Wettbewerb der negativen Anreize für Asylsuchende entbrannt. Die Schweiz als reiches Schengenland im Herzen Europas hat so betrachtet einen Standortnachteil.
Das weiss auch Migrationsministerin Baume-Schneider. Vor zwei Wochen hat sie für Gesuchsteller aus Marokko, Tunesien und Algerien die Zügel angezogen und testweise 24-Stunden-Verfahren eingeführt. Wie durch Zauberhand landete die Nachricht bei den Tamedia-Zeitungen. «Baume-Schneider setzt auf Abschreckung», titelten sie am Mittwoch.
Solche Schlagzeilen kann die Bundesrätin gut gebrauchen. In drei Wochen sind Bundesratswahlen, und die Jurassierin steht unter Dauerkritik von rechts. Am Samstag musste sie vor der SVP-Fraktion im Bundeshaus Rede und Antwort stehen.
Taliban und Pull-Faktor
«Die Idee kommt aus dem SEM-Standort Zürich», sagt ein Mitarbeiter zu SonntagsBlick. Dort kursierten schon seit geraumer Zeit Konzepte, um etwas zu unternehmen. «Ich bin sicher», führt der Mann weiter aus, «noch im September wäre diese Idee bei ihr chancenlos gewesen.» Weshalb? «Weil wir bislang gegenteilige Signale von ihr hörten. Ihr Motto lautet: ‹Jedem ein Dach über dem Kopf.›»
Intern werde berichtet, dass sie bei jedem tragischen Ereignis – Erdrutsch in Libyen, Erdbeben in Marokko, Krieg in Gaza – reflexartig ein zusätzliches Flüchtlingskontingent ins Spiel bringe. Erst ihre Entourage könne sie stoppen. Ihr Departement widerspricht auf Anfrage von SonntagsBlick: Es treffe nicht zu, dass die Chefin Flüchtlingskontingente verlangt habe.
Weiter hält Baume-Schneiders Sprecher zu den Schnellverfahren fest: «Die Departementsvorsteherin hat das SEM im Frühjahr 2023 beauftragt, Optimierungen zu prüfen und Massnahmen zu erarbeiten, um die Prozesse zu beschleunigenund das Asylwesen insgesamt zu entlasten. Das SEM setzt diesen Auftrag gestützt auf das geltende Recht unter anderem im Rahmen dieses Pilotprojekts um.»
Und doch wird immer wieder Kritik an der Kommunikation der Bundesrätin laut, etwa bei dem Entscheid, dass Afghaninnen ab sofort Asyl gewährt wird.
Dass die Taliban-Herrschaft am Hindukusch für Frauen und Mädchen die Hölle auf Erden ist, ist unbestritten. Doch fällt in den Gesprächen immer wieder ein Fachbegriff: der Pull-Faktor. Flüchtende zieht es dorthin, wo bereits ihre Landsleute sind. Das war auch bei den Eritreern so: In der Schweiz bildete sich früh eine Diaspora aus Eritrea, was sich dann durch Netzwerkeffekte und soziale Verflechtungen sozusagen verselbständigte. Ein anderes Beispiel war in den 90er-Jahren der Kosovo.
Industrie für Fake-Biografien
Wenn ein Staat die Regeln lockert, verbreiten sich solche Informationen in den Communitys und im Schleppergewerbe schnell. Die Gesuche aus Afghanistan nehmen jedenfalls derzeit zu.
Interessant ist in dieser Hinsicht die Türkei. Nach dem Putschversuch 2016 stellten viele Anhänger der Gülen-Bewegung einen Asylantrag in der Schweiz. Unter Präsident Erdogan nahm die Repression in jüngster Vergangenheit zu, Experten sprechen von einem juristischen Willkürsystem: Wer der Regierung nicht passt, kann von einem auf den anderen Tag verschwinden.
«Oft kommen Personen aus der Türkei mit einem riesigen Stapel Akten zu uns», berichtet ein SEM-Angestellter. Dann gebe jemand an, er sei Hochschuldozent oder Kulturschaffender und werde vom Regime politisch verfolgt.
Solche Fälle sind glaubwürdig und zahlreich – gleichzeitig habe sich, wie Asylprüfer berichten, eine Branche herausgebildet, in der genau bekannt ist, wie man vorgehen muss, und die gegen Geld ganze Biografien fälscht: «Also müssen wir prüfen, ob der Gesuchsteller tatsächlich einen Lehrauftrag an dieser oder jener Uni in der Türkei hat, ob er wirklich Mitglied in einer linken Partei ist und ob der ‹Fuck Erdogan›-Eintrag auf Facebook, den er uns ausgedruckt vorlegt, echt ist.»
Das führt zu aufwendigen Verfahren, man müsse Experten und Übersetzer beiziehen, manchmal im Herkunftsland recherchieren. Bis zu einem Entscheid könnten so Monate oder Jahre vergehen.
Mildes Urteil für Chefin
Das Pilotprojekt für die Maghrebiner in Zürich indessen kommt bei der SEM-Belegschaft gut an. «Wenn die Gesuchsteller sofort ihre Fingerabdrücke geben müssen und nach 24 Stunden einen Entscheid erhalten, statt zwei Wochen in einem Bed & Breakfast zu warten, spricht sich das schnell herum.»
Bei bestimmten ethnischen Gruppen ist immer wieder die Rede von Gewalt. Es sei deshalb ein offenes Geheimnis, dass bei der Zuteilung der Menschen in die Unterkünfte darauf geachtet würde. Wenn wie kürzlich in einem Zentrum in Zürich Betreuer nur noch mit Sicherheitspersonal in die Flüchtlingsunterkunft gehen können, sei das doch eine «verkehrte Welt», wie es einer formuliert. «Wer sucht hier eigentlich Schutz vor wem?»
Die Probleme einfach der Bundesrätin und der SEM-Chefin, Staatssekretärin Christine Schraner Burgener (60), anzulasten, wäre unfair. Das Dossier Migration ist vergiftet: Die Verantwortlichen sind globalen Entwicklungen ausgesetzt, die aus der Schweiz unmöglich zu steuern sind, zugleich stehen sie unter innenpolitischem Dauerbeschuss.
So fällt die Bewertung der Vorgesetzten auch milde aus. «Frau Schraner Burgener ist bemüht, sie hört sich unsere Sorgen an», gibt einer zu Protokoll. Aber Schraner Burgener fehlt sozusagen die Front-Erfahrung – sie weilte als Diplomatin viele Jahre in Botschaftsresidenzen. Ihr Vorgänger Mario Gattiker (67) hingegen ist Asylrechtsjurist und fällte einst selber Asylentscheide.
Dass die Staatssekretärin fürs Kader sogenannte Kaminfeuergespräche im Berner Oberland organisiert, während das Fussvolk vor über 15 000 unbearbeiteten Gesuchen steht, kommt nicht allzu gut an.
Haben Sie Hinweise zu brisanten Geschichten? Schreiben Sie uns: recherche@ringier.ch
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Selbst linke SEM-Leute mochten Blocher
Auf Anfrage erklärt ein SEM-Sprecher, die erwähnte Gesprächsrunde finde im Rahmen von SEM-internen Führungskursen statt. Hintergrund seien die vom Bundesrat festgelegten Werte und Führungsgrundsätze: «Zu diesem Zweck organisiert das SEM unter anderem die bereits angesprochenen Führungskurse. Sie dauern 1,5 Tage und beinhalten ein ‹Kaminfeuergespräch› mit einem Mitglied der Geschäftsleitung.»
2023 finde lediglich ein einziges dieser Gespräche statt, mit einer Vizedirektorin, nicht mit der Chefin selbst.
Wo stehen die Asylprüfer politisch? «Bei uns gibt es alles», antwortet einer. «Es gibt die Langgedienten, mittlerweile Kritischen, von denen manche zynisch werden. Dann gibt es unter den Neuen die linken Idealisten.
Viele andere der Jungen sind eher unpolitisch, dafür hoch qualifiziert. Wir haben Juristen, Ökonomen, Anwälte, Staatswissenschaftler. Es gibt auch Altgediente bei uns, von Haus aus Linke, die sagen: ‹Unter Blocher war es am besten.› Damals sei klar kommuniziert und geführt worden.»
Gegenüber SonntagsBlick hält der Sprecher des Staatssekretariats fest: «Das SEM hat, insbesondere im Asylbereich, auch 2023 ein sehr herausforderndes Jahr hinter sich. Es ist allen bewusst, dass die Mitarbeitenden einmal mehr sehr stark gefordert wurden.» Stand jetzt, seien «keine weiteren Ressourcen-Erhöhungen im Direktionsbereich Asyl geplant». l