«Eine generelle Maskenpflicht ergibt keinen Sinn»
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Epidemiologe Marcel Tanner:«Eine generelle Maskenpflicht ergibt keinen Sinn»

Epidemiologe und Covid-Taskforce-Mitglied Marcel Tanner im grossen Interview
«Eine generelle Maskenpflicht ergibt keinen Sinn»

Der Kanton Waadt weitete seine Corona-Schutzmassnahmen aus. Epidemiologe Marcel Tanner begrüsst die Verschärfungen, sieht derzeit aber keinen schweizweiten Handlungsbedarf.
Publiziert: 16.09.2020 um 22:53 Uhr
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Aktualisiert: 17.09.2020 um 14:19 Uhr
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Epidemiologe Marcel Tanner wünscht sich eine stärkere regionale Harmonisierung der Corona-Schutzmassnahmen.
Foto: Swiss TPH
Interview: Ruedi Studer

Er ist Mitglied der Covid-Taskforce des Bundes und oberster Repräsentant der Schweizer Wissenschaft. Der Basler Epidemiologe Marcel Tanner (67) zeigt sich im BLICK-Interview erfreut, dass der Kanton Waadt seine Schutzmassnahmen verschärft. Er lobt die Arbeit der Kantone, wünscht sich aber eine stärkere regionale Harmonisierung.

BLICK: Herr Tanner, die Corona-Fallzahlen steigen kontinuierlich. Stecken wir schon in der zweiten Welle?
Marcel Tanner:
Nein, das ist noch keine zweite Welle. Wir haben zwar eine langsame, exponentielle Zunahme, aber noch kein rasantes exponentielles Wachstum. Unser Rückgrat ist das Contact Tracing – und dieses funktioniert. Wir können die Infektionsketten zurückverfolgen und feststellen, wo Übertragungsherde sind, und gezielt eingreifen. Das ist entscheidend.

Ab wann müssen wir von einer zweiten Welle sprechen?
Erst, wenn wir nicht mehr wissen, wo die Infektionen stattfinden und die Infektionsherde nicht mehr eruieren können. Das haben wir im Frühling erlebt. Damals wurden wir von der ersten Welle erfasst, die uns erst unkontrolliert davongetragen hat.

Das kann sich im Herbst doch wiederholen, wenn die Menschen wieder mehr in Innenräumen unterwegs sind.
Nein, nicht so, denn wir sind besser vorbereitet. Die Schutzkonzepte bestehen, und die Kantone haben ihre Contact-Tracing-Kapazitäten deutlich ausgebaut. Zwar sind einige Kantone nahe am Limit, wir haben die Situation aber noch im Griff.

Das Beispiel Waadt zeigt doch das Gegenteil.
Das Beispiel Waadt zeigt eben, dass der regionale Ansatz funktioniert. Man greift gezielt dort ein, wo es nötig ist – anstatt flächendeckende Verbote oder Lockdowns auszusprechen. Der Kanton hat relativ spät gehandelt, aber er hat gehandelt. Dass er zum Beispiel die Clubs schliesst, ist besonders wichtig. Denn nachdem der Kanton Genf seine Clubs geschlossen hat, sind offenbar viele Genfer in die Waadt ausgewichen.

Der Kanton Waadt weitet auch die Maskenpflicht massiv aus. Müssten die Deutschschweizer Kantone jetzt nicht nachziehen?
Nein, eine generelle Maskenpflicht macht keinen Sinn, wenn zum Beispiel in Kantonen wie Glarus und Uri die Fallzahlen sehr tief sind. Nehmen wir Masken in Läden: Wenn in Basel Dutzende Kunden in einem Grossverteiler Schlange stehen, im Lädeli im Schächental aber nur einer ist, macht das ebenso einen Unterschied zur Risikolage und damit zur Maskenfrage. Die Kantone müssen nicht einfach den anderen abschauen, sondern ihre eigene Risikolage abschätzen und entscheiden.

Dann sind Sie zufrieden mit den Kantonen?
Bis jetzt machen sie das sehr gut und übernehmen mit spezifischen Schutzmassnahmen ihre Verantwortung. Wichtig finde ich aber, dass die Schutzmassnahmen auch regional stärker harmonisiert werden, damit es auch weniger «Ausweichtourismus» und Verwirrung gibt.

Die Situation ist insgesamt zwar stabil, aber auch fragil. Ist es nun nicht der falsche Zeitpunkt, wieder Grossveranstaltungen durchzuführen?
Nein, denn die Grossveranstaltungen werden mit entsprechenden Schutzkonzepten auf die lokale Risikosituation abgestimmt. Auf ein Madonna-Konzert in Genf mit 20'000 Besuchern würde ich derzeit noch verzichten, ein Alpabzug in Glarus mit einigen Tausend Zuschauern hingegen ist weniger ein Problem.

Dann befürchten Sie auch keinen weiteren Lockdown?
Ein erneuter Lockdown – egal, ob regional oder national – wäre sozial und wirtschaftlich fatal. Wir müssen solche Szenarien verhindern. Und das können wir auch! Wir haben eine ganz andere Situation als im Frühling, als wir von der Corona-Pandemie überrumpelt wurden. Wir haben funktionierende Schutzkonzepte, die Spitäler sind auf einen allfälligen Anstieg der Hospitalisationen vorbereitet, und die Bevölkerung hat mehrheitlich begriffen, worauf es ankommt, und entwickelt Gemeinschaftsverantwortung, was das Verhalten entscheidend und positiv beeinflusst.

Trotzdem: Macht Ihnen die Herbstsaison keine Sorgen, wenn die Menschen wieder erkältungsanfälliger sind?
Natürlich nehmen Erkältungskrankheiten zu, die vor allem nicht coronabedingt sind. Wichtig ist, dass wir die saisonale Grippe und Corona-Erkrankungen auseinanderhalten können, damit das System nicht überlastet wird. Deshalb appellieren wir insbesondere an Risikopersonen, die Grippeimpfung zu machen. Das verhindert, dass sie beim ersten Schnupfen befürchten, dass sie Corona erwischt haben.

Der oberste Schweizer Wissenschaftler

Marcel Tanner (67) ist als Epidemiologe und Mitglied der wissenschaftlichen Corona-Taskforce ein gefragter Interviewpartner. Der Basler ist aber auch Malariaforscher und Public-Health-Spezialist. Aktuell präsidiert er zudem die Akademien der Wissenschaften Schweiz – und ist damit oberster Repräsentant der Schweizer Wissenschaft.

Marcel Tanner (67) ist als Epidemiologe und Mitglied der wissenschaftlichen Corona-Taskforce ein gefragter Interviewpartner. Der Basler ist aber auch Malariaforscher und Public-Health-Spezialist. Aktuell präsidiert er zudem die Akademien der Wissenschaften Schweiz – und ist damit oberster Repräsentant der Schweizer Wissenschaft.

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Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.

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