«Euch haben nur meine dreckige Schuhe interessiert»
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Ignazio Cassis im Interview:«Euch haben nur meine dreckige Schuhe interessiert»

Ein Jahr Bundespräsident – Ignazio Cassis zieht Bilanz
«Wir mussten lernen, dass wir falsch lagen»

Im Blick-Interview schaut Ignazio Cassis auf ein schwieriges Jahr als Bundespräsident zurück, das im Schatten des Ukraine-Krieges stand. Und er sagt, welche Begegnung ihm immer in Erinnerung bleiben wird.
Publiziert: 16.12.2022 um 19:07 Uhr
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Aktualisiert: 17.12.2022 um 08:23 Uhr
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Ignazio Cassis blickt auf ein besonderes Präsidialjahr zurück.
Foto: STEFAN BOHRER

Eines muss man Ignazio Cassis (61) lassen: Auch wenn die Agenda mehr als prall gefüllt ist – der Bundespräsident lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er kommt gerade aus Paris zurück und muss eigentlich schon zum nächsten Termin, als Blick ihn zum Interview trifft. Doch von Eile oder Stress spürt man nichts.

Blick: Sie waren erstmals Bundespräsident der Schweiz. Was ist für Sie die Essenz dieses Amtes?
Ignazio Cassis: Zuerst einmal ist es eine grosse Aufgabe, für den Zusammenhalt des Landes zu sorgen. Man ist das Gesicht des Bundesrats gegen innen und aussen.

Konnten Sie eine persönliche Beziehung besonders vertiefen?
Ich habe in meinem Präsidialjahr alle Staats- und Regierungschefs unserer Nachbarländer getroffen und mich mehrmals mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgetauscht. Solche Beziehungen sind enorm wichtig. Die Nachbarn sind unsere wichtigsten Partner, weil sich das Gros unserer Lebens- und Wirtschaftsbeziehungen mit diesen Ländern abspielt. Der Staatsbesuch des italienischen Präsidenten Sergio Mattarella war mir als Tessiner natürlich ein besonderes Anliegen.

Was wird Ihnen besonders in Erinnerung bleiben?
Zweifellos der Beginn des Ukraine-Krieges. Überhaupt zu verstehen, was da passierte, war eine Herausforderung. Ganz Europa war für einen Moment desorientiert. Abgesehen davon vielleicht das Treffen mit Queen Elizabeth II.

Warum?
Sie war eine besondere Frau, allein die Eleganz ihrer Person – und das mit 96 Jahren! Wie sie historische Zusammenhänge mit wenigen Worten auf den Punkt brachte ... den Krieg in der Ukraine mit der Geschichte Russlands und gar Preussens. Das war beeindruckend.

Sie haben es angesprochen: Ihr Präsidialjahr hat auf tragische Art eine historische Dimension bekommen. Erstmals seit 1945 gibt es wieder einen Angriffskrieg in Europa. Wird das die überwältigende Erinnerung an dieses Jahr sein?
Ohne jeden Zweifel – nicht nur für mich, sondern für Millionen Menschen. In der Ukraine, aber auch in ganz Europa. Nicht umsonst spricht man von einer Zeitenwende.

Der Bundesrat tat sich Ende Februar schwer damit, eine Position zu finden – etwa im Hinblick auf Sanktionen. Da gab es tagelang ein Hüst und Hott. Können Sie uns erklären, warum?
Interessanterweise wird das im Ausland anders wahrgenommen: Wir haben schnell entschieden. Aber ja, in diesen Momenten muss man zwischen Emotionalität und Rationalität unterscheiden. Wenn man keine Verantwortung trägt, kann man seinen Emotionen nachgeben. Rationalität aber heisst zu überlegen, welche Auswirkungen Entscheide, die man trifft, für die nächsten Jahre haben: Was bedeuten Sanktionen für die Neutralitätspolitik, das Schweizer Recht und die Guten Dienste? Sich dafür 48 Stunden Zeit zu nehmen, ist aus meiner Sicht eine Pflicht.

Ignazio Cassis

Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Arzt wurde 2007 in den Nationalrat gewählt und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Cassis steht dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor. In diesem Jahr amtet er als Bundespräsident.

Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Arzt wurde 2007 in den Nationalrat gewählt und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Cassis steht dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor. In diesem Jahr amtet er als Bundespräsident.

Trotzdem entstand der Eindruck, dass der Bundesrat erst unter öffentlichem Druck gehandelt hat.
Der russische Angriff startete um 4 Uhr in der Nacht. Auf 9 Uhr hatte ich bereits eine erste ausserordentliche Bundesratssitzung angesetzt. Wir mussten Klarheit über verschiedene Fragen haben. Denn wir alle hatten uns der Illusion hingegeben, dass wir uns nie wieder um Krieg in Europa kümmern müssen. Wir mussten lernen, dass wir damit falsch lagen.

Die Frage, wie die Schweiz auf internationale oder innerstaatliche Konflikte reagieren soll, hat durch den Krieg eine neue Bedeutung bekommen. Man sieht es im Moment am Beispiel des Irans. Erleben wir auch da eine Zeitenwende?
Diese Frage wird die Geschichte beantworten. Klar ist, dass die Schweiz die Hinrichtungen in Zusammenhang mit den Demonstrationen im Iran aufs Schärfste verurteilt. Wir haben das den iranischen Behörden sowohl in Bern als auch in Teheran unmissverständlich gesagt.

Kommen wir zur Schweiz. Quasi als Landesvater: Wie haben Sie das Land in diesem Jahr erlebt?
Als sehr schön. Ich konnte die Schweiz von Norden bis Süden und von Osten nach Westen besuchen und näher zusammenbringen. Ich liebe dieses Land, es ist phänomenal schön. Mit dem Gesamtbundesrat gingen wir nach Genf und ins Bündnerland und trafen die Bevölkerung. So viele Leute dankten uns für das, was wir tun. All die Kritik, die man in den sozialen Medien erlebt, war dort weit weg.

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Hat die Pandemie aus Ihrer Sicht eine Narbe in der Gesellschaft hinterlassen?
Eine Narbe? Ich weiss nicht, ob dies das richtige Wort ist. Vielleicht war es vielen eine Lehre. Viele Menschen sind sich heute bewusster, wie dankbar wir sein können, in diesem Land zu leben. Wir haben in der Pandemie relativ wenig gelitten im internationalen Vergleich, auch wenn es für einige eine sehr schwere Zeit war. Viele Menschen haben realisiert, dass es nicht gottgegeben ist, dass es uns so gut geht. Und dass es Bundesrat, Parlament und Kantone vielleicht doch nicht so schlecht machen.

Apropos Führung: Sie haben im Bundesrat zwei neue Gspänli. Haben Sie schon das Gespräch mit Albert Rösti und Elisabeth Baume-Schneider gesucht?
Ich freue mich natürlich auf die neu gewählten Mitglieder. Ich kenne beide: Albert Rösti aus meiner Zeit im Nationalrat, und neben Frau Baume-Schneider sass ich oft im Ständerat, weil sie dort zweite Vizepräsidentin war. Da haben wir uns manchmal ausgetauscht. Nach der Wahl in den Bundesrat habe ich mit beiden gesprochen. Da ging es aber vor allem um die Sitzung zur Departementsverteilung. Ich wollte ihnen die Regeln möglichst gut erklären.

Ihre Partei, die FDP, kritisiert, dass die französisch- und italienischsprachige Schweiz im Bundesrat übervertreten ist. Wie sehen Sie das – als Tessiner?
Dazu sage ich gar nichts. Es ist am Parlament, die Regierung zu wählen. Wehe, wenn sich die Regierung einmischt …

Auch im kommenden Jahr wird Ihnen als Aussenminister die Arbeit nicht ausgehen. Stichwort Europa. Sie verströmen wieder Hoffnung, dass man hier auf einem guten Weg ist. Worauf stützen Sie diese Hoffnung?
Nach der Katerstimmung nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen hat der Bundesrat wieder die Richtung aufgezeigt. Zwischen Juli und Ende Jahr waren die Gespräche mit der EU so intensiv wie schon lange nicht mehr. In den Sondierungen haben beide Seiten versucht, pragmatische Lösungen zu finden. Auch das hat übrigens mit dem Krieg zu tun. Er hat uns gezeigt, dass wir Teil der gleichen Schicksalsgemeinschaft sind.

Wann wird der Bundesrat entscheiden, ob man offizielle Verhandlungen beginnt?
Es bleiben noch offene Fragen. Der Bundesrat hat am 23. November deshalb entschieden, die Sondierungsgespräche im Hinblick auf ein Verhandlungsmandat zu vertiefen. Kann man im Wahljahr ein Verhandlungsmandat bringen? Ich finde: ja, wenn man eine gute Basis dafür hat, auch wenn die Wahlen sicher ein erschwerender Faktor sind. Europa wird dann aber ohnehin Thema sein.

Es heisst, vor 2027 würde ohnehin nichts Konkretes auf dem Tisch liegen. Werden Sie einen Abschluss noch als Bundesrat erleben?
Das werden wir sehen. Beide Seiten sind an einer Lösung interessiert. Dafür muss das Fundament stimmen. Es kann schnell gehen, weil vieles schon geklärt ist. Aber der Teufel steckt im Detail – und es gibt Tausende Details. Klar ist: Eine Volksabstimmung über ein allfälliges Verhandlungsergebnis wird sicher erst nach 2024 stattfinden.

Zum Schluss: Finden Sie nach diesem anstrengenden Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr ein bisschen Zeit, um abzuschalten?
Das ist zumindest mein Wunsch! Ich werde hoffentlich nichts anderes tun, als zu Hause zu sein, meine Lieben zu sehen und die Ruhe zu geniessen. Ich plane weder Sport noch politische Gespräche oder Kino. Vielleicht werde ich endlich wieder ein bisschen lesen können.

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