Das Schweizer Einbürgerungssystem gehört zu den strengsten in Europa. Die Folge: Ein Viertel der Ansässigen hat kein Recht auf politische Mitsprache. Und das in einem Land, das so stolz ist auf seine direkte Demokratie.
Grund dafür sind vor allem die hohen Anforderungen an Einbürgerungswillige. Sie müssen zehn Jahre hier gelebt haben, die Sprache beherrschen, sich in Geschichte und Politsystem der Schweiz auskennen.
Es gibt viele, die diese Kriterien erfüllen – und dennoch keinen Schweizer Pass haben. Woran liegt das?
Bünzlige Gemeinde
Besuch in Oberriet SG. Das Dorf im St. Galler Rheintal geriet vor drei Jahren in die Schlagzeilen. Es wollte einen jungen Mann, der dort aufgewachsen war, nicht einbürgern – weil der Betroffene nicht alle Beizen im Ort nennen konnte.
Oberriet vergibt das Schweizer Bürgerrecht in spärlichen Dosen. In den letzten neun Jahren war nur etwa jeder zweite Antrag erfolgreich. 35 von 65 Einbürgerungsgesuchen wurden angenommen. Die anderen wurden abgelehnt, zurückgezogen oder abgeschrieben.
Das ist eine äusserst tiefe Quote. Typischerweise stellen vor allem Ausländer ein Gesuch, die «bessere Sprachkenntnisse haben, besser integriert und besser informiert sind als der Durchschnitt», wie Migrationsforscher Dominik Hangartner (41) sagt. Doch Oberriet lehnt jede zweite Bewerberin ab. Ist das gerechtfertigt?
Das hätte SonntagsBlick gerne von Gemeindepräsident Rolf Huber gewusst. Doch der teilte mit, er habe für ein Gespräch keine Zeit.
Dabei besteht durchaus Klärungsbedarf. Dafür spricht neben der hohen Ablehnungsquote, dass mehrere Gesuchsteller berichten, wie beim Einbürgerungsgesprächs unpassende Fragen zu ihrem Privatleben gestellt wurden. Oder wie sie sarkastische Kommentare zu ihrem Aussehen zu hören bekamen.
Malia D.* (26), Sachbearbeiterin Personal
«Ich habe zwei Mal versucht, mich einbürgern zu lassen. Das erste Mal mit meiner Familie, da war ich 15 Jahre alt. Damals wollte der Gemeindepräsident wissen, was ich tun würde, wenn mich meine Eltern zwangsverheiratet würden. Als ich antwortete, dass ich das nicht akzeptieren würde, schob er nach: ‹Was, du wärst so eine freche Tochter?› Am Ende lehnten sie unsere Einbürgerung ab. Ich fühlte mich gedemütigt. Mit 24 Jahren versuchte ich es ein zweites Mal. Ich bereitete mich akribisch vor, denn ich wusste: Sie werden nach Gründen suchen, mein Gesuch abzulehnen. Als ich in den Raum kam, richteten die Mitglieder des Einbürgerungsrats eine Kamera auf mich, um das Gespräch aufzunehmen – angeblich im Sinne der Transparenz. Ich hatte eher den Eindruck, sie wollten mich einschüchtern. Als sie mich gegen Ende fragten, wie die Nummer der Polizei lautete, hatte ich ein Blackout. Obwohl ich die Nummer ja kenne! Da wusste ich schon: Sie würden mein Gesuch ablehnen. So war es auch. Ich hatte keine Energie mehr, um Rekurs einzulegen. Aber ich werde nicht aufgeben. Ich bin Schweizerin, das hier ist meine Heimat.»
*Name geändert
Malia D.* (26), Sachbearbeiterin Personal
«Ich habe zwei Mal versucht, mich einbürgern zu lassen. Das erste Mal mit meiner Familie, da war ich 15 Jahre alt. Damals wollte der Gemeindepräsident wissen, was ich tun würde, wenn mich meine Eltern zwangsverheiratet würden. Als ich antwortete, dass ich das nicht akzeptieren würde, schob er nach: ‹Was, du wärst so eine freche Tochter?› Am Ende lehnten sie unsere Einbürgerung ab. Ich fühlte mich gedemütigt. Mit 24 Jahren versuchte ich es ein zweites Mal. Ich bereitete mich akribisch vor, denn ich wusste: Sie werden nach Gründen suchen, mein Gesuch abzulehnen. Als ich in den Raum kam, richteten die Mitglieder des Einbürgerungsrats eine Kamera auf mich, um das Gespräch aufzunehmen – angeblich im Sinne der Transparenz. Ich hatte eher den Eindruck, sie wollten mich einschüchtern. Als sie mich gegen Ende fragten, wie die Nummer der Polizei lautete, hatte ich ein Blackout. Obwohl ich die Nummer ja kenne! Da wusste ich schon: Sie würden mein Gesuch ablehnen. So war es auch. Ich hatte keine Energie mehr, um Rekurs einzulegen. Aber ich werde nicht aufgeben. Ich bin Schweizerin, das hier ist meine Heimat.»
*Name geändert
Die Aktion Vierviertel will solchen Vorgängen einen Riegel schieben. Der Verein stellt heute Sonntag den Text seiner Volksinitiative für eine Reform des Bürgerrechts vor. Denn Oberriet ist kein Einzelfall. Die Vorgänge in diesem Dorf sind symptomatisch für Mängel im Schweizer Einbürgerungswesen. Auch Gesuchsteller aus anderen Gemeinden berichten von Gesprächen, die sich eher wie Verhöre anfühlten.
Freche Schweizermacher
Zum Beispiel Katarina M.* (31). Die Einbürgerungskommission wollte wissen, ob ihr Vater erlauben würde, dass sie «einen Nicht-Albaner nach Hause nimmt». Und warum sie noch bei den Eltern lebe. Sie habe das Gespräch als äusserst unangenehm empfunden, sagt die junge Frau aus der Zentralschweiz. Am Ende lehnte die Kommission ihr Gesuch ab. «Das fand ich ziemlich unfair. Ich fühle mich hier zu Hause.»
Tiziana Gentile (25), Primarlehrerin
«Ich bin in Goldau SZ aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ich würde mich gerne einbürgern lassen, denn ich bin hier zuhause. Meine Grosseltern sind aus Italien und Portugal in die Schweiz eingewandert. Aber weil meine Eltern erst mit 13 und 14 Jahren in die Schweiz kamen, erfülle ich die Kriterien für eine erleichterte Einbürgerung nicht. Ich müsste also die normale Einbürgerung machen. Das dauert mehrere Jahre und kostet viel Geld – mehrere Tausend Franken. Vor allem aber bin ich mir nicht sicher, ob es klappen würde: Ich weiss von mehreren Personen, deren Einbürgerungsgesuch abgelehnt wurde, obwohl sie voll integriert sind. Das macht mir Angst. Und es gibt mir das Gefühl: Egal, wie gut ich integriert bin – ich kann nicht wissen, ob ich eingebürgert werde oder nicht.»
Tiziana Gentile (25), Primarlehrerin
«Ich bin in Goldau SZ aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ich würde mich gerne einbürgern lassen, denn ich bin hier zuhause. Meine Grosseltern sind aus Italien und Portugal in die Schweiz eingewandert. Aber weil meine Eltern erst mit 13 und 14 Jahren in die Schweiz kamen, erfülle ich die Kriterien für eine erleichterte Einbürgerung nicht. Ich müsste also die normale Einbürgerung machen. Das dauert mehrere Jahre und kostet viel Geld – mehrere Tausend Franken. Vor allem aber bin ich mir nicht sicher, ob es klappen würde: Ich weiss von mehreren Personen, deren Einbürgerungsgesuch abgelehnt wurde, obwohl sie voll integriert sind. Das macht mir Angst. Und es gibt mir das Gefühl: Egal, wie gut ich integriert bin – ich kann nicht wissen, ob ich eingebürgert werde oder nicht.»
Damit ist sie nicht allein, wie Christin Achermann (47) beobachtet hat, Professorin für Migration an der Uni Neuenburg. «Insbesondere Menschen, die in der Schweiz aufgewachsen sind, möchten nicht um die Staatsangehörigkeiten bitten müssen», sagt Achermann. Vielmehr würden sie sich eine Art Einladung erhoffen. «Sie möchten, dass ihre de facto Zugehörigkeit anerkannt wird, statt dass sie sich Misstrauen und Tests aussetzen müssen.»
Das wünscht sich auch Tiziana Gentile (25), deren Grosseltern aus Italien und Portugal eingewandert sind. Aus formalen Gründen kann sie nicht erleichtert eingebürgert werden. Gentile, die sich über die Onlineplattform einbürgerungsgeschichten.ch für ein faires Einbürgerungsrecht engagiert, findet das unfair.
Katarina M.* (31), Geschäftsführerin eines Modeunternehmens
«Ich bin in der Schweiz aufgewachsen, habe immer gearbeitet und mir nie etwas zuschulden kommen lassen. Vor drei Jahren reichte ich mein Einbürgerungsgesuch ein. Beim Gespräch sass ich einem guten Dutzend Leuten gegenüber; es fühlte sich an wie ein Verhör. Die Kommissionsmitglieder fragten mich, warum ich noch bei meinen Eltern wohne. Oder ob ich einen Nicht-Albaner nach Hause nehmen dürfe. Danach sollte ich die Bauprojekte nennen, die im Dorf geplant sind. Ich konnte eines nennen, aber nicht alle. Als ich den Raum verliess, wusste ich: Sie werden mein Gesuch ablehnen. Dennoch war ich enttäuscht, als die Absage kam. Mein Bruder wurde eingebürgert. Und das, obwohl auch er nicht alle Fragen beantworten konnte. Im Brief hiess es, ich sei nicht richtig integriert. Ich bat die Gemeinde, mir das Gesprächsprotokoll zu schicken – trotz mehrmaligem Nachfragen habe ich es nie erhalten. Ich würde es gerne nochmals probieren, aber habe das Gefühl, mein Gesuch würde wieder abgelehnt. Ich weiss nicht, was ich noch tun kann, um eingebürgert zu werden.»
*Name geändert
Katarina M.* (31), Geschäftsführerin eines Modeunternehmens
«Ich bin in der Schweiz aufgewachsen, habe immer gearbeitet und mir nie etwas zuschulden kommen lassen. Vor drei Jahren reichte ich mein Einbürgerungsgesuch ein. Beim Gespräch sass ich einem guten Dutzend Leuten gegenüber; es fühlte sich an wie ein Verhör. Die Kommissionsmitglieder fragten mich, warum ich noch bei meinen Eltern wohne. Oder ob ich einen Nicht-Albaner nach Hause nehmen dürfe. Danach sollte ich die Bauprojekte nennen, die im Dorf geplant sind. Ich konnte eines nennen, aber nicht alle. Als ich den Raum verliess, wusste ich: Sie werden mein Gesuch ablehnen. Dennoch war ich enttäuscht, als die Absage kam. Mein Bruder wurde eingebürgert. Und das, obwohl auch er nicht alle Fragen beantworten konnte. Im Brief hiess es, ich sei nicht richtig integriert. Ich bat die Gemeinde, mir das Gesprächsprotokoll zu schicken – trotz mehrmaligem Nachfragen habe ich es nie erhalten. Ich würde es gerne nochmals probieren, aber habe das Gefühl, mein Gesuch würde wieder abgelehnt. Ich weiss nicht, was ich noch tun kann, um eingebürgert zu werden.»
*Name geändert
Eine Studie der Eidgenössischen Migrationskommission zeigt, dass die formalen Bedingungen für eine erleichterte Einbürgerung von Angehörigen der dritten Generation viel zu kompliziert sind. Von «erleichtert» keine Spur.
Schweizer werden kostet
Die Kosten und das aufwendige Verfahren sind laut Achermann weitere Gründe für die tiefe Einbürgerungsquote. Gerade EU-Bürger sähen deshalb vielfach davon ab, einen Antrag zu stellen.
Zurück in Oberriet: Im Gasthof Hirschen im Ortsteil Montlingen sitzen zwei Herren, die sich – anders als der Gemeindepräsident – auf ein Gespräch mit SonntagsBlick einlassen: Kurt Hutter und ein Pensionär, der seinen Namen nicht nennen will.
Hutter findet den Fall des jungen Mannes, dessen Gesuch abgelehnt wurde, weil er nicht alle Restaurants kannte, absurd. Es sei falsch, wenn man die Leute mit Fragen «erwischen» wolle, die sie nicht beantworten könnten: «Wer hier geboren ist, ist doch schon Bürger.»
Sein Kollege hingegen plädiert für eine strikte Einbürgerungspraxis. Begründung: «Ausländer sind viel eher kriminell als Schweizer.»
Ein dritter Restaurantbesucher stösst dazu. «Der liebe Gott hat es so eingerichtet, dass es Österreicher, Deutsche und Schweizer gibt», sagt er. «Aber dann müssten wir ja gar niemanden einbürgern?», widerspricht Hutter. «Ja, da hätte ich nichts dagegen», meint sein neuer Tischnachbar, ein Pensionär: «Gell, wir sind keine Bösen!», betont er noch. «Aber es kann nicht sein, dass am Schluss die Ausländer über uns bestimmen.»
Die Stammtischdebatte zeigt: In der Frage, wer Schweizer oder Schweizerin ist, steckt einiges an Konfliktstoff. Viele Ausländer der zweiten und dritten Generation haben die Antwort längst gefunden. Katarina M.: «Ich fühle mich als Schweizerin.» Daran ändere auch ihr abgelehntes Einbürgerungsgesuch nichts.
*Namen geändert
Herr Hangartner, Sie haben die Auswirkung von Einbürgerungen auf die Integration untersucht. Mit welchem Resultat?Dominik Hangartner: Wir kamen zum Schluss: Eine Einbürgerung ist nicht der Schlusspunkt einer erfolgreichen Integration. Vielmehr kann eine Einbürgerung die Integration der Betroffenen verstärken – wirtschaftlich, sozial und politisch.
Das müssen Sie erklären.
Menschen, die sich erfolgreich einbürgern liessen, verdienten nach einigen Jahren 5000 Franken pro Jahr mehr als jene, deren Gesuch abgelehnt wurde. Der Effekt ist also beachtlich. Auf sozialer Ebene zeigte sich, dass sich Eingebürgerte weniger diskriminiert und eher in der Schweiz zu Hause fühlten als Nicht-Eingebürgerte. Der dritte Punkt ist die politische Teilnahme. Eingebürgerte hatten ein paar Jahre nach ihrer Einbürgerung auch bessere politische Kenntnisse als Nicht-Eingebürgerte.
Die Einbürgerung führt also dazu, dass sich die Leute von sich aus mehr mit Politik auseinandersetzen?
Genau.
Wie sind Sie bei Ihrer Studie vorgegangen?
Uns war wichtig, dass man Personen vergleicht, die ähnlich gute Chancen auf eine Einbürgerung hatten – und wo es ein Zufallsentscheid war, ob sie eingebürgert werden oder nicht. Also haben wir Gemeinden untersucht, die in den späten 90er- und frühen Nullerjahren an der Urne über Einbürgerungen entschieden haben. Für unsere Studie haben wir jene Personen herangezogen, die knapp eingebürgert wurden oder eben nicht. Dann haben wir geschaut, wo sie 15 Jahre später stehen. Die Unterschiede waren frappant.
Wie erklärt sich der Lohnunterschied von 5000 Franken pro Jahr zwischen Eingebürgerten und Nicht-Eingebürgerten?
Aus anderen Studien wissen wir: Wer keinen Schweizer Pass hat, wird bei der Jobsuche eher diskriminiert und weniger häufig zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Umgekehrt heisst das: Wer den Pass bekommt, verbessert seinen Chancen auf dem Jobmarkt – und dadurch auch die Chance auf ein höheres Gehalt.
Herr Hangartner, Sie haben die Auswirkung von Einbürgerungen auf die Integration untersucht. Mit welchem Resultat?Dominik Hangartner: Wir kamen zum Schluss: Eine Einbürgerung ist nicht der Schlusspunkt einer erfolgreichen Integration. Vielmehr kann eine Einbürgerung die Integration der Betroffenen verstärken – wirtschaftlich, sozial und politisch.
Das müssen Sie erklären.
Menschen, die sich erfolgreich einbürgern liessen, verdienten nach einigen Jahren 5000 Franken pro Jahr mehr als jene, deren Gesuch abgelehnt wurde. Der Effekt ist also beachtlich. Auf sozialer Ebene zeigte sich, dass sich Eingebürgerte weniger diskriminiert und eher in der Schweiz zu Hause fühlten als Nicht-Eingebürgerte. Der dritte Punkt ist die politische Teilnahme. Eingebürgerte hatten ein paar Jahre nach ihrer Einbürgerung auch bessere politische Kenntnisse als Nicht-Eingebürgerte.
Die Einbürgerung führt also dazu, dass sich die Leute von sich aus mehr mit Politik auseinandersetzen?
Genau.
Wie sind Sie bei Ihrer Studie vorgegangen?
Uns war wichtig, dass man Personen vergleicht, die ähnlich gute Chancen auf eine Einbürgerung hatten – und wo es ein Zufallsentscheid war, ob sie eingebürgert werden oder nicht. Also haben wir Gemeinden untersucht, die in den späten 90er- und frühen Nullerjahren an der Urne über Einbürgerungen entschieden haben. Für unsere Studie haben wir jene Personen herangezogen, die knapp eingebürgert wurden oder eben nicht. Dann haben wir geschaut, wo sie 15 Jahre später stehen. Die Unterschiede waren frappant.
Wie erklärt sich der Lohnunterschied von 5000 Franken pro Jahr zwischen Eingebürgerten und Nicht-Eingebürgerten?
Aus anderen Studien wissen wir: Wer keinen Schweizer Pass hat, wird bei der Jobsuche eher diskriminiert und weniger häufig zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Umgekehrt heisst das: Wer den Pass bekommt, verbessert seinen Chancen auf dem Jobmarkt – und dadurch auch die Chance auf ein höheres Gehalt.