Erzählt Carmen Senoran (41) neuen Bekanntschaften, für welche Partei sie sich engagiert, fällt die Reaktion meist ähnlich aus: «SVP? Spinnsch eigentli?»
Die Immobilienverwalterin mit spanischen Wurzeln lässt sich davon nicht beirren. Von 2017 bis 2021 sass sie im Zürcher Stadtparlament. Nun kandidiert sie für den Nationalrat – auf der Secondo-Liste der SVP.
Für die Volkspartei ist die Liste eine Premiere. Zürich ist die erste und einzige Kantonalpartei, die mit einer separaten Liste von Kandidierenden mit Migrationshintergrund antritt. 25 Frauen und Männer finden sich darauf. Menschen mit italienischem, serbischen oder türkischem Pass. Und daneben natürlich dem schweizerischen.
Anteil stagniert
Selbst bei der migrationskritischen SVP rücken Kandidaten mit Migrationshintergrund auf die Listen. Braut sich da etwas zusammen? Steuern wir auf die vielfältigsten Parlamentswahlen zu, die die Schweiz je erlebt hat? Kommt nach der Klima- und Frauenwahl von 2019 die Migrantenwahl 2023?
Eher nicht.
Blick hat die Listen aus allen Kantonen für die Nationalratswahlen 2015, 2019 und 2023 einer Analyse unterzogen. Das Resultat: 13,7 Prozent der aktuell Kandidierenden haben einen ausländischen Namen. 2019 waren es mit 13,2 Prozent nur unwesentlich weniger. 2015 betrug der Anteil 11,9 Prozent.
Unter den Gewählten ist der Anteil noch einmal geringer: 2015 und 2019 lag er bei gerade einmal 6 Prozent. Das in einem Land, in dem 40 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben – Tendenz steigend. Rund die Hälfte davon ist stimm- und wahlberechtigt.
SP schwingt obenaus
Bei der Analyse stützt sich Blick auf bestehende Forschungsarbeiten, insbesondere diejenigen der Schweizer Politikwissenschaftlerin Lea Portmann (35). Die Auswertung hat einen Fehlerbereich. Fest steht aber: Bürger mit ausländischen Wurzeln sind schon auf den Wahllisten klar unterrepräsentiert. Und zwar in fast allen grossen Parteien.
Blick wertete für diesen Artikel Datensätze der vergangenen drei Nationalratswahlen aus, die zusammen über 14'100 Kandidatinnen und Kandidaten umfassten. Für die anstehenden Wahlen liegen Daten aus 18 Kantonen vor. Diese sind provisorisch und können sich noch verändern. Bei der Auswertung orientierten wir uns an einer Forschungsarbeit der beiden Politikwissenschaftler Lea Portmann und Nenad Stojanovic, in der sie die Namen der Kandidierenden in allen Kantonen mit dem Familiennamenbuch der Schweiz abglichen. Darin sind über 48'500 Geschlechter aufgelistet, die 1962 in einer Schweizer Gemeinde das Bürgerrecht besassen. Im Artikel werden alle Personen, deren Namen nicht im Familienbuch gefunden wurden, als Kandidaten mit ausländischen Wurzeln bezeichnet.
Blick wertete für diesen Artikel Datensätze der vergangenen drei Nationalratswahlen aus, die zusammen über 14'100 Kandidatinnen und Kandidaten umfassten. Für die anstehenden Wahlen liegen Daten aus 18 Kantonen vor. Diese sind provisorisch und können sich noch verändern. Bei der Auswertung orientierten wir uns an einer Forschungsarbeit der beiden Politikwissenschaftler Lea Portmann und Nenad Stojanovic, in der sie die Namen der Kandidierenden in allen Kantonen mit dem Familiennamenbuch der Schweiz abglichen. Darin sind über 48'500 Geschlechter aufgelistet, die 1962 in einer Schweizer Gemeinde das Bürgerrecht besassen. Im Artikel werden alle Personen, deren Namen nicht im Familienbuch gefunden wurden, als Kandidaten mit ausländischen Wurzeln bezeichnet.
Am höchsten ist der Anteil an Kandidierenden mit ausländischem Namen bei der SP, wo er in den vergangenen Jahren sanft angestiegen ist und heute bei 20,9 Prozent liegt. Bei den Grünen ist der Anteil leicht rückläufig und liegt heute bei 14,4 Prozent. Bei der Mitte hat der Anteil seit 2015 um drei Prozentpunkte abgenommen und beträgt heute 10,3 Prozent. Die Parteien rechts der Mitte holen leicht auf: die FDP von 7,8 Prozent im Jahr 2015 auf 13,3 Prozent heute, die SVP von 6,6 Prozent auf 11,2 Prozent.
Ein Blick auf die Kantone zeigt, dass in Genf mit Abstand am meisten Menschen mit ausländischem Namen kandidieren: Dieses Jahr beträgt der Anteil fast ein Drittel. In Zürich, dem mit rund 1340 Kandidierenden grössten Kanton, sind es 16 Prozent, in Freiburg 13,5 Prozent. In Bern tragen derweil gerade einmal 8,5 Prozent der Kandidierenden einen ausländischen Namen.
Stimmen holen mit Secondos
Die Politikwissenschaftlerin Lea Portmann, die seit Jahren politische Repräsentation und Diskriminierung in der Schweiz untersucht, sagt im Interview mit Blick: «Menschen mit Migrationshintergrund sind in der Schweizer Politik benachteiligt.»
Migranten in der Politik
Als Wählergruppe nimmt man sie dagegen gerne. Domenik Ledergerber (35), Präsident der SVP Zürich, spricht von einem «Wählerpotenzial», das man mit der neuen Secondo-Liste abholen möchte. Heisst: Die Partei hofft vor allem, mit den Kandidierenden Stimmen in Kreisen zu machen, in denen man bisher kaum mobilisierte. «In den vergangenen zwei, drei Jahren haben wir festgestellt, dass unter den Neumitgliedern immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund sind», sagt Ledergerber.
Während die Rechtspartei Neuland betritt, buhlt das linke Lager schon lange bei Menschen mit Migrationshintergrund um Stimmen. Die SP ist die einzige Partei, die mit den «SP Migrant:innen» ein parteiinternes Organ etabliert hat, das sich für die Interessen von Menschen mit Migrationshintergrund einsetzt. Die Sozialdemokraten arbeiten zudem nicht erst dieses Jahr mit der Partei des kosovarischen Ministerpräsidenten Albin Kurti (48) zusammen.
Ausländische Wurzeln «bringen Würze rein»
Auch die Grünen wollen Secondos mit spezifischen Massnahmen mobilisieren. Man mache im Vorfeld der Wahlen Social-Media-Wahlaufrufe in zwölf Sprachen, sagt Grünen-Generalsekretärin Rahel Estermann. Und man motiviere die Kantonalparteien ausdrücklich, Menschen mit Migrationshintergrund prominent auf den Wahllisten zu platzieren. Es sei ihnen sehr wichtig, dass die Secondos «nicht einfach als ‹Alibi› auf einer Nebenliste oder auf einem schlechten Listenplatz kandidieren».
Die Zürcher SVP-Kandidatin Carmen Senoran sieht sich nicht als Feigenblatt. Die Secondo-Liste sei «ein Schritt in die richtige Richtung». Sie findet es wichtig, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund wie sie stärker politisch engagieren. Ganz besonders bei der SVP. «Die Leute sollen realisieren: Die SVP ist nicht ausländerfeindlich!» Ihr Hintergrund präge sie, auch wenn sie in der Schweiz geboren ist, sagt Senoran. «Meine spanischen Wurzeln bringen Würze rein.»
Schaut man sich die Gesamtheit der Kandidierenden an, dann bleibt die Sache allerdings ziemlich fad.