Würde man Ignazio Cassis (61) und Livia Leu (61) sagen, dass die Lösung für die Beziehungen zur Schweiz in Brüssel bereits diskutiert wird, würden sie es nicht glauben. Logisch, denn der Aussenminister und seine Chefunterhändlerin, die am 28. April erneut mit leeren Händen aus Brüssel zurückkehrte, stecken in den Vorbereitungen für einen möglichen Plan B. Dieser soll die bilateralen Beziehungen retten, nachdem der Bundesrat vor einem Jahr das Rahmenabkommen versenkt hat.
Doch Tatsache ist: Es gibt Lösungen, mit denen die Schweiz ihre Anbindung an die EU aufrechterhalten kann. Das zeigt eine Rede, die Emmanuel Macron (44) am 9. Mai in Strassburg (F) gehalten hat. «Wir wissen, dass vielleicht nicht immer alle zustimmen werden. Wir dürfen uns aber nicht vor unseren Unterschieden fürchten, denn sie waren immer fruchtbar für das europäische Projekt», sagte der frisch wiedergewählte französische Staatschef.
Macron will mehr Tempo, aber ohne auszugrenzen
Er fuhr fort: «Ich kenne die Ängste vor einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Aber wenn sich Europa als Macht behaupten will, müssen wir das Tempo beschleunigen und unsere Ambitionen verstärken, in Kernfragen mehr Übereinstimmung zu schaffen – ohne vordefiniertes Format, ohne auszugrenzen. Aber auch, ohne uns durch Skeptiker und Zögerer bremsen zu lassen.»
Richtig gelesen: «Ohne vordefiniertes Format, ohne auszugrenzen. Diese Worte beziehen sich auf die 27 EU-Mitglieder – aber auch auf alle, die an ihre Tür klopfen, darunter die Ukraine, die sich hektisch um eine Express-Mitgliedschaft bemüht.
Es lohnt sich, über Folgendes nachzudenken: Was wäre, wenn diese Worte sich auch an assoziierte Staaten richten würden, deren Werte, demokratische Funktionsweise und wirtschaftliches Gewicht für die EU von grösstem Interesse sind? Wir sollten diese Frage öffentlich stellen, insbesondere weil Macron fortfuhr: «Die Europäische Union kann angesichts ihres Integrationsgrades und ihrer Ambitionen kurzfristig nicht das einzige Mittel sein, um den europäischen Kontinent zu strukturieren.»
Britisches Misstrauen als Vorwand
Cassis darf gern hoffen, beim britischen Premierminister Boris Johnson (57) Patentrezepte für unsere europäische Zukunft zu finden, wie er es am 28. April bei seinem Besuch in London getan hat. Allerdings besteht die Gefahr, dass er dabei in den Abgrund des Misstrauens stürzt, den die britischen Konservativen mit ihren Lügen gegraben haben und der den Brexiteer Johnson nun von seinen europäischen Amtskollegen trennt.
Und Livia Leu darf gern hoffen, dass das Ja zu Frontex ihr ein weiteres Argument liefern wird, um zu zeigen, dass die Schweiz weiterhin eine Musterschülerin im Schengen-Raum ist.
Aber das wird im Grunde nichts ändern. Der Bundesrat muss wagen, über die Zukunft zu reden – und zwar nicht in der juristisch-bürokratischen Sprache eines abstrusen Plan B, sondern indem er mit klaren politischen Vorschlägen zu drei Punkten nach Brüssel zurückkehrt.
- Welche Kompetenzen wollen wir mit unseren EU-Partnern teilen?
- Welche Ausnahmen vom EU-Recht – ja, Ausnahmen, wagen wir das Wort! – brauchen wir, um voranzukommen?
- Welche Garantien können wir Brüssel für unsere politische Aufrichtigkeit bieten (was bedeutet, dass wir in der Schweiz öffentlich Stellung beziehen müssen)?
Der Krieg in der Ukraine bringt alles durcheinander
Die EU hat begriffen, dass der Krieg in der Ukraine ihr Gleichgewicht auf den Kopf stellt. Das eröffnet neue Möglichkeiten. Worauf warten wir also noch? Glaubt der Bundesrat noch immer, dass die britische Diplomatie uns Wunderlösungen auf dem Tablett servieren wird, verbunden mit vagen Versprechungen über wirtschaftliche Zusammenarbeit?
Der EU-Botschafter in Bern, Petros Mavromichalis (58), hat völlig recht, wenn er in der «NZZ» vom 9. Mai schreibt: «Die Stärke des Binnenmarktes ist, dass sich alle Teilnehmer an dieselben Regeln halten. Wir können einen Drittstaat wie die Schweiz, die am Binnenmarkt teilnimmt, nicht anders behandeln. Ich verstehe nicht, warum das hierzulande nicht verstanden wird.»
Juristen haben viel geschrieben, Diplomaten haben viel geredet. Politiker haben viel aufgegeben. Die derzeitige Sackgasse zwischen der Eidgenossenschaft und der EU ist das Ergebnis. Nur Vorschläge, die für alle verständlich sind, werden einen Ausweg daraus bieten.
* Der französisch-schweizerische Journalist Richard Werly ist ein bekannter politischer Kommentator und Europa-Experte. Seine Einschätzungen werden oft in französischen Medien zitiert, zudem ist Werly geschätzter Gast in Talk-Sendungen. Seit diesem Monat arbeitet Werly bei Blick Romandie. Er berichtet aus Paris und Brüssel.