Mit der Anklage hat die ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs, Carla Del Ponte (75), nie gezögert – ob in der Öffentlichkeit oder im Gerichtssaal. Sie hat Kriegsverbrechen in Ruanda, Syrien und Jugoslawien ermittelt. Wie keine andere kennt sie die Schwierigkeiten der internationalen Justiz – und zeigt sich doch immer noch überzeugt von deren Wirkung.
Seit über einem Monat herrscht mitten in Europa wieder Krieg. Wie beurteilen Sie die Situation in der Ukraine?
Carla Del Ponte: Ich war sehr erstaunt. Ich hätte nie gedacht, dass Russland so weit geht. Bei mir kommen da auch Erinnerungen hoch. Das Schlimmste war, die Massengräber in der Ukraine zu sehen.
Erinnerungen aus Ihrer Zeit als Chefanklägerin der Jugoslawien-Tribunale.
Genau. Der einzige Unterschied zu damals ist, dass die Leichen diesmal in Plastiksäcken liegen. Ich hatte gehofft, nie wieder ein Massengrab zu sehen. Man darf auch den humanitären Aspekt nicht vergessen: Diese Toten haben Angehörige, die nicht wissen, was aus ihnen geworden ist. Das ist inakzeptabel, solche Massengräber müssen darum wieder geöffnet werden. Man muss die Leichen alle exhumieren und identifizieren, das ist eine riesige Arbeit.
Welche Kriegsverbrechen sehen Sie noch in der Ukraine?
Attacken auf Zivilisten, die Zerstörung von Privatgebäuden, ganzen Städten. Das sind alles Kriegsverbrechen, denn es wurde ganz offensichtlich nicht auf militärische Objekte gezielt.
Karim Khan, einer Ihrer Nachfolger als Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, hat sehr kurz nach Kriegsbeginn eine Untersuchung eingeleitet. Kommt das nicht einer Vorverurteilung Russlands gleich?
Nein, im Gegenteil. Man hat vom ersten Tag an gesehen, dass Kriegsverbrechen begangen werden, darum ist es absolut richtig, die Ermittlungen aufzunehmen. Justiz braucht viel Zeit, umso wichtiger ist es, schnell mit der Untersuchung zu beginnen. Dadurch, dass die ukrainische Regierung bereit war, zu kooperieren, wird die Ermittlung auch erleichtert.
Ist die Hoffnung dahinter auch, dass eine Untersuchung präventiv wirkt, dass sich die Kriegsparteien zurückhalten?
Ja, das war sicher ein Aspekt, denn das wünscht man sich natürlich. Ich persönlich glaube nicht daran. Ich hoffe, dass es schnell zu einer Anklageschrift kommt und internationale Haftbefehle ausgestellt werden.
Angenommen, die Beweise werden auch gefunden – wie geht es dann weiter?
Ganz klassisch. Man muss die Befehlskette hinauf ermitteln – bis zu den Verantwortlichen, die die entsprechenden Entscheide getroffen haben. Dann folgt eine Anklageschrift, die den Richtern vorgelegt wird, zusammen mit dem Antrag auf einen internationalen Haftbefehl. Und dann wartet man.
Am Ende dieser Befehlskette sitzt der russische Staatspräsident Wladimir Putin. Glauben Sie, man wird ihn zur Rechenschaft ziehen können?
Davon bin ich überzeugt. Man darf einfach nicht nachlassen und muss immer weiter ermitteln. Als die Untersuchung gegen Milosevic begann, war er noch serbischer Präsident. Wer hätte damals gedacht, dass er jemals vor Gericht kommt? Niemand!
Slobodan Milosevic konnte nur vor Gericht gestellt werden, weil Serbien ihn – unter grossem internationalem Druck – auslieferte. Es ist zurzeit kaum vorstellbar, dass das dereinst auch mit Putin geschehen wird.
Wer weiss! Natürlich wird das sehr schwierig. Aber man darf auch nicht vergessen: Wenn ein internationaler Strafbefehl gegen Putin und weitere Angeklagte ausgestellt wird, hat schon das eine Wirkung. Sie können dann zum Beispiel das Land nicht verlassen.
Putin ist 69 Jahre alt. Selbst wenn sich die Machtverhältnisse in Russland so ändern, dass ihm der Prozess gemacht werden kann, kann gut sein, dass er ein Urteil nicht mehr erleben würde. Genau wie bei Milosevic. Ist für die Opfer eine solche gescheiterte Gerechtigkeit dennoch besser als gar keine?
Ja, auf jeden Fall. Meine Erfahrung ist, dass die Opfer nach Gerechtigkeit rufen. Für die Überlebenden ist es unglaublich wichtig, dass jemand versucht, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wichtig ist: Ein Ankläger muss auf beide Seiten ermitteln. In einem Krieg begeht nie nur eine Seite Verbrechen.
Carla Del Ponte (75) wuchs mit drei Brüdern im Tessiner Hotel ihrer Eltern auf. Sie verschrieb sich in den 80er-Jahren der Mafiajagd – unter anderem an der Seite des später ermordeten italienischen Richters Giovanni Falcone (1939–1992). Von 1994 bis 1998 war sie Bundesanwältin, von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag für Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien sowie den Völkermord in Ruanda. Von 2008 bis 2011 war sie Botschafterin der Schweiz in Argentinien, von 2011 bis 2017 Uno-Sonderberichterstatterin für Kriegsverbrechen in Syrien. Ponte ist zweimal geschieden und hat einen Sohn.
Carla Del Ponte (75) wuchs mit drei Brüdern im Tessiner Hotel ihrer Eltern auf. Sie verschrieb sich in den 80er-Jahren der Mafiajagd – unter anderem an der Seite des später ermordeten italienischen Richters Giovanni Falcone (1939–1992). Von 1994 bis 1998 war sie Bundesanwältin, von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag für Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien sowie den Völkermord in Ruanda. Von 2008 bis 2011 war sie Botschafterin der Schweiz in Argentinien, von 2011 bis 2017 Uno-Sonderberichterstatterin für Kriegsverbrechen in Syrien. Ponte ist zweimal geschieden und hat einen Sohn.
Auch die Ukraine hat sich mutmasslich Kriegsverbrechen schuldig gemacht, etwa mit dem Ausstellen von russischen Kriegsgefangenen, die Rede ist auch von Folter.
Ecco, genau das meine ich! Alle, die am Krieg teilnehmen, begehen Verbrechen. Die Folter von russischen Gefangenen ist ein Kriegsverbrechen, das man genau gleich verfolgen muss.
Die Ukraine verbietet es Männern, das Land zu verlassen. Ist das legitim? Schliesslich zwingt sie damit Zivilisten in den Krieg.
Rechtlich ist das zulässig. Es wäre ein Kriegsverbrechen, wenn Zivilisten verboten wird, ein Gebäude, das bombardiert wird, zu verlassen. Den eigenen Staatsbürgern verbieten, das Land zu verlassen, weil sie Wehrdienst leisten müssen, ist keines.
Wird denn der Westen gegen die Ukraine vorgehen? Den Siegern wird nie der Prozess gemacht.
Die internationale Justiz ist unabhängig. Man muss alle Verbrecher von allen Seiten ermitteln. Es geht nicht um die Gewinner und die Verlierer des Kriegs – es geht um die Verbrecher und um jene, die für Verbrechen verantwortlich sind.
Sie selbst haben damals aber türenknallend der Uno-Kommission für Syrien den Rücken gekehrt, weil diese zu wenig Einflussmöglichkeiten habe. Ist denn der Fall in der Ukraine so anders?
Ich weiss nicht, ob es jetzt so anders läuft als in Syrien. Russland ist militärisch sicher und übt sein Veto-Recht aus, das ist genau die gleiche Obstruktionspolitik. Das ändert aber nichts daran, dass der Strafgerichtshof weiter ermitteln muss.
Der Syrienkrieg scheint den Westen im Vergleich viel weniger zu interessieren. Stört sie das?
Nein, ich verstehe das. Im Syrienkrieg ist die Situation anders. Syrien hat – politisch gesprochen – keine Beziehungen. Die Ukraine hat mit Europa, mit der Nato zu tun. Diese Situation ist nicht vergleichbar.
Die EU hat in seltener Einigkeit Sanktionen gegen Russland ausgesprochen. Macht die Schweiz genug? Gerade die Oligarchen-Jagd scheint ja sehr träge zu verlaufen.
Doch, ich glaube schon. Soweit ich das aus den Medien mitverfolge, hat die Schweiz die richtige politische Haltung. Bis die Sanktionen Wirkung zeigen, wird es auch Zeit brauchen.