In der Schweiz und in Europa ist sie das Thema des Sommers: die drohende zweite Welle der Corona-Pandemie. Ist sie schon da, oder kommt sie noch? Wie in der Schweiz sind auch in Deutschland die Zahlen der Neuansteckungen gestiegen. Nun hat sich der deutsche Virologe Christan Drosten (48) aus der Sommerpause zurückgemeldet. Sein Rezept gegen die zweite Welle dreht sich vor allem um die Eindämmung von Clustern, wie er in einem Gastbeitrag in der «Zeit» schreibt.
Eine zweite Welle könne «eine ganz andere Dynamik haben», argumentiert Drosten. Denn zu Anfang der Pandemie kam das Virus quasi von aussen, wurde aus Skiorten und über Reisende eingeschleppt. Jetzt präsentiere sich die Lage anders: Das Virus ist inzwischen in fast allen Bevölkerungsschichten angekommen.
Das mache das Nachverfolgen von Infektionsketten sehr schwierig, denn Neuansteckungen treten zeitgleich und flächendeckender auf. Diese Erfahrung hat auch die Schweiz gemacht hat: In etwa 40 Prozent der Fälle weiss das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nicht, wo sich die Menschen angesteckt haben. Und auch die Kantone tappen im Dunkeln.
Kurze «Abklingzeit» statt Quarantäne
Die zweite Welle lässt sich trotzdem verhindern, argumentiert Drosten. Denn das Virus werde nicht gleichmässig verbreitet. Für die exponentielle Verbreitung seien Mehrfachübertragungen verantwortlich, die Drosten Cluster nennt. Diese Cluster, in der Schweiz auch Superspreader-Fälle genannt, starten neue Infektionsketten.
Die Eindämmung dieser Fälle muss für Drosten der Kern der Strategie gegen die zweite Welle sein – nach dem Vorbild von Japan, das eine Liste von typischen sozialen Situationen erstellt habe, in denen es oft zu Mehrfachinfektionen komme. Wichtiger, als Einzelfälle in die Quarantäne zu schicken, sei, Personen zu isolieren, die in einer solchen Situation waren.
«Der Blick zurück ist wichtiger als der Blick nach vorn», schreibt Drosten. Soll heissen: Wenn ein Erkrankter im Grossraumbüro war, an einer Party oder an einem Fussballspiel, müssten sofort alle Mitarbeiter und Besucher dieses «Quellclusters» in Quarantäne – und zwar pauschal und ohne Test. Für diese reiche die Zeit nämlich oft nicht.
Allerdings schlägt Drosten eine verkürzte Isolierung von fünf Tagen vor, die er «Abklingzeit» nennt. Erst dann werde getestet. Wer dann positiv ist, müsse in Isolation blieben. Um den Erfolg dieser Strategie sicherzustellen, schlägt Drosten vor, dass jeder Bürger im Winter ein Kontakttagebuch führt.
«Ohne Lockdown, dafür mit Restrisiko»
Drosten argumentiert, dass diese Strategie bei einem schnellen Anstieg der Neuinfektionen mehr Erfolg verspreche als das bisherige gezielte Isolieren von Infizierten. Denn bis ein Erkrankter Symptome zeige, zum Arzt gehe und schliesslich sein Testresultat habe, sei er oft gar nicht mehr infektiös. Ohnehin plädiert Drosten dafür, statt auf Infektion auf Infektiosität zu testen – also zu schauen, ob jemand ansteckend ist. Die gängigen PCR-Tests liefern dafür schon mit der Viruslast die entscheidende Information.
«Nehmen die Neuinfektionen plötzlich stark zu, brauchen wir einen pragmatischen Weg zum Stopp des Clusterwachstums: ohne Lockdown, dafür mit Restrisiko.» Hierfür sei das Mitdenken der gesamten Bevölkerung, der Arbeitgeber und der Politik dringend notwendig.
Luftaustausch sicherstellen
Man lerne zwar viel Neues über das Virus, das werde aber nur zögerlich umgesetzt, kritisiert Drosten weiter. So ist inzwischen etwa klar, dass das Virus sich vor allem über die Luft überträgt – über Aerosole. Es gelte die Frage zu beantworten, welche technischen Lösungen es etwa in öffentlichen Gebäuden braucht, um einen hinreichenden Luftaustausch sicherzustellen. Deutschland habe die erste Welle «besser als viele andere» kontrollieren können, schreibt der Institutsdirektor an der Charité in Berlin. Aber: «Jetzt laufen wir Gefahr, unseren Erfolg zu verspielen.» (gbl)