Er hat als Tessiner die erste Corona-Welle hautnah miterlebt. Dennoch gehen ihm die Massnahmen des Bundes zu weit. SVP-Präsident Marco Chiesa (46) findet, dass die Kantone darüber entscheiden sollten. Und er äussert sich zu den Wahlen im Aargau und fordert vom Bundesrat inhaltliche Nachbesserungen beim Rahmenabkommen.
BLICK: Herr Chiesa, der Bundesrat hat am Sonntag neue Massnahmen gegen das Coronavirus ergriffen. Die SVP ist dagegen. Warum?
Marco Chiesa: Corona ist da, aber wir dürfen nicht in Hysterie verfallen. Wir brauchen einen kühlen Kopf, denn alle Einschränkungen haben langfristige Folgen für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze der Menschen. Wir müssen so normal wie möglich weiterleben. Da hat Ueli Maurer recht.
Diese Haltung erstaunt. Als Tessiner haben Sie die Auswirkungen von Corona im Frühling aus nächster Nähe gesehen.
Auch als Tessiner bin ich überzeugt, dass man nicht nur die richtigen Massnahmen, sondern diese auch zum richtigen Zeitpunkt ergreifen muss. Diesen Zeitpunkt können die Kantone am besten selber bestimmen – zumal die Situation nicht in allen Kantonen dieselbe ist.
Ist jetzt der Zeitpunkt, um Grossveranstaltungen zu verbieten?
Es gibt Kantone, die stärker betroffen sind als andere. Wenn ein Kanton die Kontrolle über das Virus verliert, dann soll er härtere Massnahmen anordnen können. Das hat sich im März im Tessin bewährt.
Sie waren bis im Frühling Leiter eines Altersheims. Besteht in den Altersheimen Handlungsbedarf?
Ja. In den Alters- und Pflegeheimen potenziert sich das Risiko. Hier müssen wir wirklich alle Vorsichtsmassnahmen ergreifen und wenn nötig auch Kontakte einschränken. Denn bei älteren Menschen kann eine Infektion verheerende Auswirkungen haben. Nicht zuletzt geht es auch darum, die Spitäler nicht zu überlasten. Komplette Besuchsverbote sind für die Heimbewohner jedoch unglaublich hart und traurig, das haben wir im Frühling erlebt. Ich hoffe daher, dass solche Verbote nicht nötig sein werden.
Kommen wir zurück zur Politik. Wie erleichtert waren Sie am Sonntag? Die SVP hat im Aargau nicht so viel verloren wie befürchtet.
Ja, viele Journalisten und Experten hatten den politischen Nachruf auf die SVP und auf Andreas Glarner bereits geschrieben und müssen ihn nun in der Schublade versorgen. Im Ernst: Ich bin zufrieden mit dem Ergebnis, denn es zeigt, dass die Wählerinnen und Wähler unsere Wirtschaftspolitik für den Mittelstand und unsere konservative Wertepolitik nach wie vor teilen.
Marco Chiesa (46) ist seit August Präsident der SVP Schweiz. Der Tessiner hat bis im Frühling ein Altersheim geleitet – und die erste Corona-Welle aus nächster Nähe miterlebt. Nun konzentriert er sich auf seine politischen Ämter: das Präsidium der SVP und sein Mandat als Ständerat des Kantons Tessin. Chiesa lebt in Ruvigliana TI nahe Lugano, ist verheiratet und Vater zweier Kinder.
Marco Chiesa (46) ist seit August Präsident der SVP Schweiz. Der Tessiner hat bis im Frühling ein Altersheim geleitet – und die erste Corona-Welle aus nächster Nähe miterlebt. Nun konzentriert er sich auf seine politischen Ämter: das Präsidium der SVP und sein Mandat als Ständerat des Kantons Tessin. Chiesa lebt in Ruvigliana TI nahe Lugano, ist verheiratet und Vater zweier Kinder.
Die grüne Welle hat aber auch den AKW- und Autokanton Aargau erreicht. Was heisst das für die SVP?
Die Grünen und Grünliberalen sind momentan en vogue. Doch sie kannibalisieren nicht uns, sondern die SP und die Mitte. Über die historische Niederlage der SP schreibt natürlich niemand. Auch die Rechnung der CVP ging nicht auf: Sie glaubte, die vier Sitze von der BDP erben zu können, und verlor deren drei. Für mich ist deshalb klar: Wir von der SVP bleiben verlässlich und setzen uns als einzige Partei für den Mittelstand ein. Deshalb unterstützen wir das Referendum gegen das CO2-Gesetz. Denn dieses bringt nichts fürs Klima, sondern nur hohe Kosten – vor allem für den Mittelstand.
Sie reden das schön. In den bisherigen kantonalen Wahlen hat die SVP neun Sitze verloren. Wie wollen Sie den Abwärtstrend stoppen?
Gegen den konjunkturellen Effekt der grünen Welle kann man nicht viel machen. Wellen kommen und gehen. Ich setze auf die gute Arbeit unserer Mandatsträgerinnen und -träger und darauf, neue gute Persönlichkeiten in der SVP zu finden und zu fördern. Man redet immer von den Parteien. Doch Politik wird von Frauen und Männern gemacht.
Welche inhaltlichen Schwerpunkte wollen Sie setzen?
Erstens: Wir müssen unseren Mittelstand vor den linksgrünen Umverteilungsgelüsten schützen. Deshalb bekämpft die SVP das CO2-Gesetz. Zweitens: Es braucht eine echte Reform der Altersvorsorge, also von AHV und zweiter Säule, um die finanzielle Sicherheit der Menschen zu garantieren, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben. Drittens will ich die Selbstbestimmung der Schweiz bewahren – sie bildet das politische Fundament unseres Wohlstandes und unseres Erfolges.
Damit sind wir beim Rahmenabkommen. Der Bundesrat hat letzte Woche Livia Leu als Chefunterhändlerin eingesetzt.
Ach, das ist nur eine Scheinlösung! Es bringt nichts, die Person auszuwechseln, ohne inhaltliche Korrektur. Ich fordere, dass der Bundesrat eine klare Grenze zieht: keine automatische Übernahme von EU-Recht und keine Unterwerfung unter den Europäischen Gerichtshof, damit die Schweiz ihre Souveränität behält. Der Souveränitätsverlust ist der zentrale Punkt im heute vorliegenden Abkommen. Darüber müssen wir sprechen, statt uns in Details zu verlieren.
Warum sollte der Bundesrat darauf eingehen? Die SVP wird das Abkommen ohnehin ablehnen.
Es geht nicht um die SVP, sondern um die Zukunft unseres Landes. Wir sind ja nicht die einzigen Kritiker dieses Abkommens. Die Kantone fürchten die Einmischung der EU. Mit alt Bundesrat Johann Schneider-Ammann und CVP-Präsident Gerhard Pfister haben sich kürzlich wichtige Bürgerliche auf unsere Seite geschlagen. Ich gehe davon aus, dass sie bei ihrer Einschätzung bleiben werden.
Nochmals: Es gibt kein Abkommen, zu dem die SVP Ja sagen würde.
Ich bin für eine Stärkung unserer wirtschaftlichen Beziehungen zur EU. Daran sollte auch die EU interessiert sein – immerhin kaufen wir mehr von ihnen als sie von uns. Wenn das Abkommen den Freihandel stärkt, ohne die Souveränität der Schweiz zu schwächen und ohne, dass wir uns durch EU-Strafmassnahmen und Guillotineklausel erpressbar machen, muss man den Vertrag neu bewerten.