Herr Botschafter Hirvonen, rechnen Sie tatsächlich damit, dass Russland in Ihr Land einmarschiert?
Valtteri Hirvonen: Derzeit besteht gegen Finnland keine unmittelbare militärische Bedrohung, aber wir verfolgen die Entwicklung der Lage. Die finnische Sicherheits- und Verteidigungspolitik basiert auf einer starken nationalen Verteidigungsfähigkeit und darauf, den nationalen Handlungsspielraum zu erhalten und verschiedene Optionen offenzuhalten. Militärische Bedrohungen begrenzen sich aber nicht nur auf Landkriegsführung. Finnland wickelt den Grossteil seines Aussenhandels über die See ab – und deswegen ist auch der Schutz der Seewege für Finnland von zentraler Bedeutung.
Finnland hat in den letzten 800 Jahren rund 30 Kriege gegen Russland geführt. Was ist heute anders?
Russland hat viele Kriege gegen uns geführt, und russische Truppen sind in diesen 800 Jahren brandschatzend und vernichtend durchs Land gezogen. Unsere letzten Kriege gegen die Sowjetunion waren der Winterkrieg 1939/40 und der Fortsetzungskrieg von 1941 bis 1944, in denen wir uns gegen die Sowjets so verteidigen konnten, dass wir nicht besetzt wurden und unsere Unabhängigkeit und unsere demokratische Gesellschaftsordnung beibehalten konnten – aber trotzdem zehn Prozent unseres Territoriums abtreten mussten. Wir haben gelernt, dass starke Partner unabdingbar sind, um einen militärischen Überfall zu vermeiden.
Wie präsent ist in Finnland der Krieg gegen die Sowjetunion 1939/40?
Der Winterkrieg ist in Finnland in guter Erinnerung. Landesweite Gedenktage und Gedenkstätten erinnern uns fortwährend an den sowjetischen Überfall. Das nationale kollektive Gedächtnis an die Kriegszeit hat auch unseren nationalen Charakter geprägt: In harten Zeiten halten wir zusammen und meistern Schwierigkeiten gemeinsam.
Inwiefern hatte sich die Situation nach dem Ende der Sowjetunion für Finnland entspannt?
Als der Kalte Krieg endete, reduzierten die meisten europäischen Länder ihren Schwerpunkt ihrer Verteidigungsausgaben und entwickelten kleinere, aber hochprofessionelle Streitkräfte. Finnland wählte einen anderen Weg – nicht zuletzt wegen seiner 1400 Kilometer Grenze zu Russland. Für Finnland war der Kalte Krieg nie zu Ende. Wir behielten eine starke nationale Verteidigungshaltung bei, deren Eckpfeiler die Wehrpflicht und eine grosse, gut ausgebildete Reserve sind.
In Finnland leben rund 100'000 Russischsprachige. Sorgen Sie sich um den nationalen Zusammenhalt?
Nein. Die Russischsprachigen sind überwiegend friedliche Leute. Man muss auch bedenken, dass es in Finnland so gut wie keine russischsprachigen Mitbürger vor Ende des Kalten Kriegs gab. Fast alle sind erst nach dem Kollaps der Sowjetunion nach Finnland gezogen. 84 Prozent der Finninnen und Finnen haben diese Woche in Meinungsanfragen angegeben, dass sie bereit sind, das Land militärisch zu verteidigen, fast 80 Prozent sind für den Nato-Beitritt. Ich habe keine Sorge um den Zusammenhalt. Im Gegenteil, der Krieg schweisst die Finnen zusammen.
Valtteri Hirvonen (60) ist seit 2021 finnischer Botschafter in der Schweiz. Zuvor war er Direktor im finnischen Aussenministerium in Helsinki. Der studierte Geograf ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder. Zu seinen Hobbys gehört die Forstwirtschaft. Er spricht fliessend Deutsch.
Valtteri Hirvonen (60) ist seit 2021 finnischer Botschafter in der Schweiz. Zuvor war er Direktor im finnischen Aussenministerium in Helsinki. Der studierte Geograf ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder. Zu seinen Hobbys gehört die Forstwirtschaft. Er spricht fliessend Deutsch.
Es ist mit Cyberangriffen aus Russland zu rechnen. Wie wappnet sich Ihr Land?
Bis alle 30 Nato-Staaten der Mitgliedschaft Finnlands zugestimmt haben, wird Finnland kein Vollmitglied des Verteidigungsbündnisses sein. Wir sind darauf vorbereitet, dass Russland in dieser Übergangszeit aggressive Gegenmassnahmen erwägen wird. Es ist mit grossflächigen Versuchen zur Einflussnahme, hybriden Angriffen, Luftraumverletzungen und Datenangriffen zu rechnen. Und dann gibt es Überraschungen, die noch niemand nennen kann. Wir sind aber bereit, mit allen verfügbaren Mitteln auf Versuche zu reagieren, die den Nato-Beitrittsprozess beeinflussen sollen.
Finnland ist stark von russischen Rohstoffen abhängig. Wie findet das Land rasch aus dieser Situation heraus?
Finnlands dezentrale, diversifizierte und effiziente Energieerzeugung ist die Grundlage unserer Energiesicherheit. Auch wenn 60 bis 65 Prozent unserer Energieimporte aus Russland stammen, sind wir von russischer Energie nicht abhängig: Die Importe können durch unsere eigene Produktion und durch Energieimporte aus anderen Ländern ersetzt werden. Der Import von Erdgas aus Russland endet an diesem Wochenende. Gas macht jedoch etwa nur fünf Prozent des gesamten Energieverbrauchs aus. Wir sind in Gesprächen, um die Gasimporte mit westlichen Gaslieferanten zu erhöhen. Am Freitag haben wir einen zehnjährigen Mietvertrag für das LNG-Gasschiff Exemplar unterschrieben, das Flüssiggas aus anderen Ländern transportiert. Es wird teuer, aber an Energie wird es nicht mangeln.
Finnland setzt stark auf Atomkraftwerke. Wenn der Krieg gegen die Ukraine eines zeigt, dann doch dies, wie gefährlich die Atomkraft ist!
Atomkraftwerke im internationalen bewaffneten Konflikt zwischen zwei Vertragsstaaten stehen unter einem besonderen Schutz. Grundsätzlich hat man sich international, auch Russland, darauf geeinigt, dass Kernkraftwerke nicht angegriffen werden dürfen, selbst wenn sie ein rechtmässiges militärisches Ziel darstellen und damit angegriffen werden dürften. In der Ukraine waren und sind die Kernkraftwerke militärische Ziele, aber auch Russland hat sich davor gehütet, die Meiler direkt anzugreifen. Radioaktive Kontamination wird auch den Angreifer treffen. Die Kernkraft hat in Finnland eine zentrale Rolle in der Energieversorgung und zum Erreichen der Klimaziele, sie lässt sich nicht ersetzen.
Was bedeuten der Nato-Beitritt und das Ende der Neutralität für Finnland?
Man kann mit Sicherheit sagen, dass Finnland seit über 30 Jahren kein neutrales Land mehr ist. Finnland und Schweden traten 1994 dem Programm «Partnerschaft für den Frieden» der Nato und 1995 der EU bei. In der politischen Rhetorik der 1990er- und frühen 2000er-Jahre behielt Finnland jedoch seine Rolle als militärisch blockfreies Land bei. Finnland steht seit langem an der Schwelle zur Nato. Der bevorstehende Beitritt stärkt die Sicherheit Finnlands und die Stabilität sowohl des Ostseeraums als auch ganz Nordeuropas und der Arktis.
Die Türkei hat angekündigt, den finnischen und schwedischen Nato-Beitritt zu blockieren. Was würde für Finnland ein Scheitern bedeuten?
Wir sind begehrte Partner in der Nato. Wir werden jedoch weiterhin fleissig auf allen Ebenen daran arbeiten, das Projekt zu einem guten Abschluss zu bringen. Es ist nur natürlich, dass auf diesem Weg auch Stolpersteine anzutreffen sind, aber da müssen wir einen kühlen Kopf bewahren und die Hindernisse zusammen mit unseren künftigen Partnern bewältigen. Von der Türkei haben wir vor einiger Zeit positive Signale erhalten und müssen jetzt schauen, was die türkischen Sicherheitsbedenken konkret betreffen und wie wir diese anpacken können.
Raten Sie einen Nato-Beitritt auch der Schweiz?
Es wäre wenig ratsam, einem souveränen Land irgendeinen Rat zu geben. Die Schweiz wird zweifellos ihre eigenen Entscheidungen treffen.
Die Schweiz verbietet anderen Staaten, Waffen aus Schweizer Herkunft an Kiew zu liefern. Würden Sie es begrüssen, wenn die Schweiz diese Ausfuhrpraxis lockerte?
Diese Frage darf und soll nur die Schweiz beantworten. Finnland hat seine Praxis geändert und unterstützt die von Russland angegriffene Ukraine auch mit Waffen. Dies ist das erste Mal, dass Finnland Waffen an ein Krieg führendes Land liefert.
Das Interview wurde schriftlich geführt.