SonntagsBlick analysiert das Cassis-Paradox
Der missverstandene Bundesrat

Unter den sieben Bundesräten ist Ignazio Cassis vielleicht der liebenswerteste. Wie kommt es, dass er dennoch die schlechteste Presse hat? Eine Analyse.
Publiziert: 17.10.2020 um 22:27 Uhr
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Aktualisiert: 06.01.2021 um 11:25 Uhr
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Die neue EU-Chefunterhändlerin Livia Leu (links) trat am Mittwoch vor die Medien, gemeinsam mit ihrem Vorgesetzten, Bundesrat Ignazio Cassis.
Foto: KARL-HEINZ HUG
Camilla Alabor

Er hatte das Wort, sie die Aufmerksamkeit. Als Bundesrat Ignazio Cassis (59) am Mittwoch die neue EU-Chefunterhändlerin Livia Leu (59) den Medien vorstellte, war sie es, die einen bleibenden Eindruck hinterliess: forsch, souverän, zackig. Und dies, obwohl Auftritte vor der versammelten Bundeshauspresse für Diplomatinnen keineswegs zum Tages­geschäft gehören.

Umso stärker war der Kontrast zu ihrem Chef, Aussenminister Cassis. Dieser wirkte alles andere als entspannt. Auf die teilweise spitzen Fragen der Journalisten ant­wortete der FDP-Politiker ausweichend, aus der Defensive ­heraus und mit langfädigen Ausführungen. Klar wurde einzig: Pressekonferenzen gehören nicht zu Cassis’ liebsten Pflichten.

Das kommt überraschend. Erstens suchen andere Bundesräte ­regelrecht das mediale Scheinwerferlicht, um ihre Botschaft ­unters Volk zu bringen. Zweitens ist der Tessiner unter den sieben ­Regierungsmitgliedern wahrscheinlich derjenige mit den grössten zwischenmenschlichen Qualitäten: Cassis versteht es, auf wildfremde Menschen zuzugehen und innert Sekunden ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.

Schlechteste Presse im Bundesrat

Es mutet deshalb paradox an, dass sein Verhältnis zu den (Deutschschweizer) Journalisten derart angespannt ist. Und dass er von allen Bundesräten vielleicht die schlechteste Presse hat. Wie erklärt sich das?

Zu Beginn seiner Amtszeit verhielt sich Ignazio Cassis als Bundesrat so, wie er als Parlamentarier gewesen war: offen, herzlich, immer bereit für einen Schwatz. Auch gegenüber den Medien. Auch dann, wenn es um heikle Themen ging.

Das führte in den ersten Monaten seiner Amtszeit zu mehreren Eklats, die bis heute nachhallen. Etwa seine Aussage im Mai 2018, das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNRWA sei «Teil des Problems» im Israel-­Palästina-Konflikt. Oder sein Kommentar im Juni 2018, man müsse bei den flankierenden Massnahmen «kreative Wege» finden in den Verhandlungen mit der EU. Mit solch unbedachten Äusserungen hat Cassis einiges an Geschirr zerschlagen. Und den Boden dafür vorbereitet, dass jenes Etikett an ihm haften blieb, das ihm seine politischen Gegner einst anhängten: Cassis, der «Praktikant».

Fehler machen Cassis zu schaffen

Cassis’ Fehltritte in den ersten Monaten haben ein Bild geprägt, das sich in den Medien verselbständigte: Jedes Fettnäpfchen, in das er seither tritt, wird durch diese Brille wahrgenommen. Wobei nicht immer klar ist, ob es sich tatsächlich um einen Fauxpas handelt – oder um einen Spin seiner politischen Gegner.

Denn auffällig viele negative Artikel drehen sich darum, womit der FDP-Mann im Bundesrat aufgelaufen ist. Nur: Solche vertraulichen ­Informationen fallen nicht vom Himmel, sondern werden den Journalisten in der Regel weitergegeben mit dem Ziel, ­einen ­bestimmten Bundesrat schlecht dastehen zu lassen.

So berich­tete der «Tages-Anzeiger» am vergangenen Montag über die bevorstehende Absetzung des EU-Chefunterhändlers Roberto Balzaretti. Der Spin: Cassis habe Balzaretti «nicht aus freien Stücken» geopfert, sondern sich dazu gezwungen gesehen. Andere mögliche Interpretationen – dass es sich um einen Befreiungsschlag handelte, zum Beispiel – waren damit von vorn­herein ausgeschlossen.

Kein Gespür für politische Anliegen

Gleichzeitig scheint Cassis teilweise tatsächlich das politische Gespür dafür zu fehlen, was – im Bundesrat, im Parlament, im Volk – mehrheitsfähig ist. Das Resultat ist ein Zickzackkurs, für den er in den Medien ebenfalls Kritik einstecken muss. Zum Beispiel, als der Tessiner während des Lockdowns im Bundesrat ent­gegen seiner vorherigen Linie plötzlich auf eine schnellere Öffnung drängte. Ob das nun von Lernfähigkeit zeugt oder von mangelnder Standhaftigkeit, ist Ansichts­sache.

Eine letzte Erklärung dafür, weshalb Cassis derart oft medial unter die Räder kommt, mag seine Herkunft sein. Anders als die Bundesräte aus der Deutschschweiz und der Romandie geniesst der Tessiner nur selten den Luxus, sich in seiner Muttersprache auszudrücken: Er würde von den Journalisten schlicht nicht verstanden. Oder wenn, dann noch schlechter als heute.

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