Kommentar von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Die Schweizer EU-Politik als Opferritual

Livia Leu ist die fünfte Staatssekretärin innerhalb von vier Jahren, die den Auftrag hat, ein Rahmenabkommen mit der EU auszuhandeln. Meint es der Bundesrat aber wirklich ernst mit ­einem mehrheitsfähigen Vertrag, dann sollte jetzt nicht Frau Leu im Fokus stehen.
Publiziert: 17.10.2020 um 22:23 Uhr
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Aktualisiert: 17.10.2020 um 22:27 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Paul Seewer
Gieri Cavelty

Ethnologen dürften entzückt sein über dieses bizarre Ritual. Da gibt es ein Volk, das alle paar Monde jemanden aus seinen Reihen mit einem prächtigen Titel ausstattet und diesen Auserwählten dann zu Verhandlungen mit der ­finstersten aller Mächte über die Grenze schickt. Nach seiner Rückkehr wird der Staatssekretär öffentlich als Versager gebrandmarkt und verbannt.

Sinn und Zweck des Diplomatenopfers ist es, das Verhältnis der Schweiz zur EU im Ungefähren zu lassen und weiterhin der Illusion ­anhängen zu dürfen, wir Schweizer seien als ganzes Volk Auserwählte. In einem absolut souveränen Staat. Als Nabel der Welt.

Livia Leu ist im Aussendepar­tement die fünfte Staatssekretärin ­innert vier Jahren, die den Auftrag hat, ein Rahmenabkommen mit der EU auszuhandeln, das hierzulande eine Mehrheit finden kann. Geht es nach dem Bundesrat – so zumindest liess sich das Gremium vor dem jüngsten Personalentscheid stets vernehmen –, muss Leu ihren ­Gesprächspartnern in Brüssel drei Zugeständnisse abringen:

  • Kantonalbanken sollen nach wie vor eine Staatsgarantie erhalten dürfen.
  • Die Schweiz darf selber ­bestimmen, wie sie die Löhne schützt.
  • EU-Bürger, die sich seit fünf Jahren in der Schweiz aufhalten, sollen nicht automatisch Anspruch auf Sozialhilfe haben.

Dieser Hattrick ist an sich ­schwierig genug, um nicht zu sagen: unmöglich. Mittlerweile aber haben verschiedene Protagonisten den Druck noch erhöht. Für Politiker wie CVP-Präsident Gerhard Pfister geht es zusätzlich darum, dass der Europäische Gerichtshof der Schweiz keinerlei Vorschriften machen soll. Dabei hat der Bundesrat den EuGH als letzte Instanz in Streitfällen vor Jahren schon akzeptiert und dies im Entwurf zum Rahmenabkommen auch festschreiben lassen.

Gerhard Pfister beim Wort genommen, muss die neue Schweizer Chefdiplomatin also gar nicht erst versuchen, in Brüssel den bestehenden Vertragstext nachzubessern. Es geht um ein komplett neues Abkommen.

Noch hat sich der Bundesrat nicht darauf festgelegt, was die frisch ernannte Staatssekretärin nun effektiv bewirken soll. Meint es die Landesregierung aber wirklich ernst mit ­einem Rahmenvertrag, der eine Volksabstimmung bestehen soll, dann schlägt jetzt keineswegs die grosse Stunde von Livia Leu. In diesem Fall sollte sich vielmehr der Bundesrat exponieren. Das heisst: Aussen­minister Ignazio Cassis müsste das Dossier wirklich zur Chefsache machen. Cassis höchstpersönlich müsste der EU vermitteln, was für die Eidgenossenschaft geht und was nicht. Nur ein solches Verhandlungsresultat könnte er Herrn und Frau Schweizer im Abstimmungskampf glaubwürdig als das bestmögliche präsentieren.

Gewiss: Das Risiko eines ­Absturzes ist immens. Denn natürlich müsste Ignazio Cassis seine
Mitbürger in einem solchen Abstimmungskampf von vielen Illusionen be­freien. Cassis weiss das. Und er hegt nicht die Absicht, sich in Gefahr zu begeben. Wenn der Aussenminister bei seinem Auftritt vor den Medien diese Woche etwas klarmachte, so war es Folgendes: Er wird sich hinter Livia Leu verstecken. Das Ritual des Diplomatenopfers bleibt damit ein fester Bestandteil der Schweizer Europapolitik.

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