«Für den Bundesrat gilt: Qualität vor Timing»
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Cassis zum Rahmenabkommen:«Wir wollen mit Jobs die Entwicklung fördern»

Aussenminister Cassis will beim Rahmenabkommen nichts überstürzen
«Für den Bundesrat gilt: Qualität vor Timing»

Bundesrat Ignazio Cassis freut sich darüber, seine neue Entwicklungspolitik schlank durchs Parlament gebracht zu haben. Beim Rahmenabkommen setzt er auf eine Lösung, die auch innenpolitisch eine Chance auf eine Mehrheit hat.
Publiziert: 23.09.2020 um 06:50 Uhr
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Aktualisiert: 06.01.2021 um 11:25 Uhr
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Bundesrat Ignazio Cassis hat die Entwicklungspolitik neu strukturiert.
Foto: BENJAMIN SOLAND
Interview: Sermîn Faki und Pascal Tischhauser

Aussenminister Ignazio Cassis (59, FDP) empfängt den BLICK im Bundeshaus-West. Ein Mitarbeiter des Aussendepartements (EDA) mit Fotokamera wartet bereits im Sitzungszimmer. Er macht Bilder für die EDA-Website während des Interviews. Eine ungewohnte Situation.

BLICK: Herr Cassis, Sie konnten einen schönen Erfolg feiern: Ihre Entwicklungspolitik ist schlank durchs Parlament gekommen. Sind Sie überrascht?
Ignazio Cassis: Ich bin vor allem erfreut! (lacht) Aber schlank ist das richtige Wort: Wir haben aus den 320 Seiten der letzten Strategie 61 Seiten gemacht. Jetzt haben wir klare Kriterien, messbare Methoden und mehr Transparenz und Fokussierung in der Entwicklungszusammenarbeit.

Was ist das Kernstück der Strategie?
Der Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, klar zu sagen, was wir machen wollen, wo wir es machen wollen und wie. In einer Sprache, die nicht nur erfahrene Parlamentarier verstehen. Ich kann mich selbst noch gut erinnern, als ich neu im Parlament war: Es war praktisch unmöglich, die Botschaft zur Internationalen Zusammenarbeit, kurz IZA, zu verstehen – man musste dem Bundesrat einfach vertrauen. Jetzt haben wir Klarheit und Struktur.

Neu ist die Verknüpfung von Entwicklungshilfe und Zusammenarbeit in Migrationsfragen. Wie sinnvoll ist das?
Das Parlament hat das vor vier Jahren beschlossen. Die Bekämpfung der Ursachen, die zu irregulärer Migration und Flucht führen, ist auch in unserem Interesse. Die Frage bleibt aber, wie eng die Verknüpfung sein soll. Mit anderen Worten: Wollen wir die Zusammenarbeit mit Ländern einstellen, die im Migrationsbereich nicht mit uns kooperieren? Hier habe ich gebremst. Wir können keine absolute Bedingung daraus machen. Es ist wie bei den Menschenrechten: Würden wir nur noch mit Staaten reden, die die Menschenrechte ausnahmslos achten, fielen viele Länder weg.

Neu ist auch, dass Sie vermehrt mit dem Privatsektor zusammenarbeiten. Warum?
Erst mal: Die Nichtregierungsorganisationen bekommen in den nächsten vier Jahren mehr Geld als heute. Aber der Privatsektor wird wichtiger. Warum? Weil wir dank Jobs Entwicklung fördern wollen. Und neun von zehn Arbeitsstellen in Entwicklungsländern entstehen nun mal im Privatsektor. Wir arbeiten insbesondere mit den KMU vor Ort zusammen. In den Schweizer Privatsektor fliesst kein einziger Rappen Steuergeld.

Wie soll das konkret funktionieren?
Nehmen Sie Mosambik. Dort sind nach dem Friedensabkommen – an dem die Schweiz wesentlich beteiligt war – Tausende Soldaten arbeitslos geworden. Sie brauchen neue Jobs – und in Mosambik kommt allein Landwirtschaft infrage. Doch dazu braucht es Geld, etwa für Saatgut und landwirtschaftliche Werkzeuge. Zusammen mit einer südafrikanischen Versicherung prüfen wir zurzeit die Einführung neuer Finanzprodukte. Der Ex-Soldat und Landwirt wird also Geld haben, um – sagen wir – Kaffee anzubauen. Doch wohin soll er ihn verkaufen?

Hier kommt dann Nestlé ins Spiel, oder?
Zum Beispiel. Im konkreten Fall garantiert Nespresso fünf Jahre lang einen gewissen Absatz, der dem Kaffeebauern das Einkommen sichert. Und Nespresso kann mit seinem Engagement Marketing betreiben. Alle gewinnen – ohne dass die südafrikanische Versicherung oder Nespresso Steuergelder bekommen.

Was verändert sich mit der neuen Strategie für die Deza?
Sie erhält mehr Selbstsicherheit. Die Deza, die ich vor drei Jahren angetroffen habe, war verunsichert von den aggressiven Diskussionen um sie. Ich habe versucht, das zu ändern. Mit den neuen Kriterien und der Klarheit im Auftrag kann man auch dazu stehen, wenn ein Projekt scheitert. Scheitern ist keine Schande – vor allem in einem schwierigen Umfeld, das von Kriegen und Korruption geprägt ist. Da kann nicht immer alles picobello laufen. Und das soll man auch ungeniert sagen können.

Arzt im Bundesrat

Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Arzt wurde 2007 in den Nationalrat gewählt und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Cassis steht dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor. Ihm stehen schwierige Monate bevor – denn als Aussenminister ist er verantwortlich für die Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen.

Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Arzt wurde 2007 in den Nationalrat gewählt und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Cassis steht dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor. Ihm stehen schwierige Monate bevor – denn als Aussenminister ist er verantwortlich für die Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen.

Wird es zu Umstrukturierungen in der Deza kommen?
Ziemlich sicher. Als ich das Aussendepartement übernahm, habe ich mir eine Frage gestellt: Welchen Platz will die Schweiz in der Welt 2028 einnehmen? Wir haben dazu eine aussenpolitische Strategie entwickelt. Nun braucht es eine Struktur, mit der die Strategie umgesetzt werden kann.

Die Medien haben die Strukturanpassungen im EDA thematisiert. Stimmt es, dass der EU-Bereich wieder zurückgebunden wird und ein Super-Staatssekretär übernimmt?
Ich verstehe, dass Sie dazu etwas wissen möchten. Aber das sind Indiskretionen, die ich nicht kommentiere.

Bis Ende Jahr soll ja ein neuer Staatssekretär eingesetzt werden. Weitere Veränderungen wären logisch.
Das ist so. Der Prozess läuft innerhalb der Kaskade «Strategie-Struktur-Köpfe». Zuerst haben wir die Strategie definiert, jetzt geht es um die strukturelle Anpassung, dann um die Wahl der Person, welche die richtigen Voraussetzungen mitbringt, um unsere Strategie umzusetzen.

Über einen Erfolg dürfen Sie sich wohl bald auch bei der Abstimmung über die Begrenzungs-Initiative freuen ...
… seit 2014 gehöre ich zu den gebrannten Kindern. Man glaubte die Masseneinwanderungs-Initiative gebodigt zu haben und wurde dann am Abstimmungssonntag kalt erwischt. Aber ich hoffe natürlich, dass die Stimmbürgerinnen und -bürger die Meinung des Bundesrats teilen und die Initiative ablehnen.

Dann lassen Sie uns auf die beiden möglichen Szenarien eingehen. Was passiert, wenn das Volk doch Ja sagt?
Der neue Verfassungsartikel besagt dann, dass der Bundesrat innerhalb eines Jahres mit der EU den Exit aus der Personenfreizügigkeit verhandeln muss. Wie genau sich die Initianten das vorgestellt haben, ist nicht geregelt. Ich gehe aber davon aus, dass wir dann versuchen sollten, mit Brüssel einen Ausstieg aus dem Freizügigkeitsabkommen zu vereinbaren, ohne dass die damit verknüpften bilateralen Verträge des ersten Pakets ebenfalls fallen.

Kann das gelingen?
Ich befürchte, wir erhalten hier eine recht kurze ablehnende Antwort. Nach Ablauf dieser Jahresfrist muss der Bundesrat innerhalb eines Monats das Freizügigkeitsabkommen kündigen. Sechs Monate später werden die anderen sechs Abkommen der Bilateralen I automatisch ausser Kraft gesetzt. Automatisch! Für Bern und Brüssel gibt es dann nichts mehr zu tun. Die Verträge wären ein halbes Jahr später einfach Geschichte.

Und dann?
Natürlich befänden wir uns weiterhin mitten in Europa und würden das Gespräch mit der EU und direkt mit unseren Nachbarländern suchen. Wir müssten ausloten, wie wir unsere Beziehungen auf neue Füsse stellen können. Das wäre mit grosser Unsicherheit verbunden, was gerade in den aktuellen Zeiten für unsere Arbeitsplätze gefährlich wäre.

Ein Nein hingegen wäre ein klares Zeichen für die Weiterführung des bilateralen Wegs. Folgt dann gleich das Rahmenabkommen?
Der bilaterale Weg würde mit einer institutionellen Lösung konsolidiert und womöglich ausgeweitet. Das ist der Wunsch des Bundesrats. Für eine allfällige Ausweitung mit einem Strom- oder einem Gesundheitsabkommen sowie für die Forschung braucht es vorgängig die Lösung der institutionellen Frage. Machen wir uns nichts vor: Ein Teil der Bevölkerung wird jede institutionelle Lösung ablehnen. Ein anderer wird jedoch zustimmen, wenn klar ist, welche Lösung es zu welchem Preis gibt.

Haben Sie denn schon Lösungen bei den drei Punkten des Rahmenabkommens, bei denen es noch Klärungen braucht?
Der Bundesrat hat beschlossen, dass es bei den staatlichen Beihilfen, bei den flankierenden Massnahmen und bei der Unionsbürgerrichtlinie noch Klärungen geben muss. Es ist an der Schweiz, hier Vorschläge zu machen. Nach einem Nein zur BGI nimmt der Bundesrat die Diskussionen wieder auf.

Diese umstrittenen Punkte scheinen ein weiteres Problem nur zu überlagern: Die Kritik daran, dass der EuGH das letzte Wort haben soll, flammt wieder auf. Sie kommt von alt Bundesrat Johann Schneider-Ammann, also aus Ihrer Partei. Kommt der Bundesrat um echte Neuverhandlungen herum?
Nach breiter Konsultation 2019 wurden drei Bereiche definiert, die noch nicht zufriedenstellend gelöst sind. Der Bundesrat hat der EU-Kommission in Aussicht gestellt, dazu Vorschläge zu machen.

Haben Sie realistische Vorschläge?
Ob unsere Vorschläge bei der EU dann auf Zustimmung stossen, hängt von ganz vielem ab: auch davon, wie es in diesem Moment der EU geht. Wie es mit dem Brexit aussieht. In welcher Finanzsituation die EU sich befindet. Und wo sie in der Corona-Situation steht. Alles Faktoren, über die wir heute nur spekulieren können.

Glauben Sie, die Vorschläge werden innerhalb des heutigen Vertragstextes sein? Oder wird man auf das Rahmenabkommen zurückkommen müssen?
Sie sprechen hier eine Frage an, die während der Konsultationen lang und breit diskutiert wurde. Politisch kann man das nicht mit Ja oder Nein beantworten. Klar ist: Wenn der Wille für eine Lösung da ist, finden wir sie. Und der Bundesrat will eine materielle Lösung.

Es heisst, für Vorschläge hätten Sie ein Zeitfenster bis Ende Jahr.
Nein, es gibt kein Zeitfenster und keine Deadline. Wie viel Zeit wir haben, ist eine rein politische Einschätzung. Natürlich gibt es Abkommen – etwa im Bereich Forschung –, deren Weiterführung an Termine gebunden ist. Der Bundesrat hat diese im Auge. Aber sie bestimmen nicht unseren Terminkalender. Für den Bundesrat gilt: Qualität vor Timing! Wenn der Bundesrat überzeugt ist, eine Übereinkunft in der Hand zu haben, deren Inhalt auch die Bevölkerung mitträgt, dann sind wir so weit.

Sie sind also zuversichtlich, dass wir noch ein institutionelles Abkommen abschliessen können?
Der Bundesrat arbeitet seit sieben Jahren daran. Und nie in dieser Zeit hat der Bundesrat seine Position geändert. Für nächstes Jahr bleibt die Überweisung der Botschaft zum Rahmenabkommen das Ziel des Bundesrats – vorausgesetzt, dass eine zufriedenstellende Lösung gefunden wird. Der Gesamtbundesrat sieht die Konsolidierung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs als besten Weg für die Schweiz.

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