Wählt die Schweiz ein neues Parlament, bleiben viele Bielerinnen und Bieler lieber zu Hause. In keiner anderen der zehn grössten Schweizer Städte liegt die Stimm- und Wahlbeteiligung so tief wie in Biel BE.
Letzten Sonntag beteiligten sich 37 Prozent der Stimmberechtigten an den Nationalratswahlen. In Bern waren es 59 Prozent, in Zürich 52 und in Basel 51 Prozent. Selbst in Genf und Lausanne VD, die nicht eben für hohe Wahlbeteiligung bekannt sind, gingen prozentual mehr Menschen an die Urne.
Das Desinteresse hat Folgen: Biel ist die einzige grosse Schweizer Stadt, die im neuen Parlament nicht vertreten sein wird. Letztmals wurde 2007 jemand von hier in den Nationalrat gewählt.
Seit Jahrzehnten liegt die Beteiligung bei eidgenössischen Abstimmungen in der zweisprachigen Stadt zuverlässig fünf bis zehn Prozentpunkte tiefer als im nationalen Schnitt.
Woran das liegt? SonntagsBlick hat Bielerinnen und Bieler in der Fussgängerzone des Stadtzentrums gefragt. Ein Mann um die 40 antwortet: «Die in Bern machen sowieso, was sie wollen», dann eilt er weiter.
Eine Passantin Mitte 60 ist aus einem anderen Grund zu Hause geblieben: «Trop compliqué», sagt sie und schüttelt den Kopf, ihr war das alles zu kompliziert, sie habe das dicke Wahlcouvert gar nicht erst geöffnet. Weitere Passanten äussern sich ähnlich. Der Glaube, dass jede Stimme zählt, scheint hier nicht sonderlich weit verbreitet.
Hoher Ausländeranteil, weniger Stimmen
Die Wahlabstinenz der Bieler beschäftigt auch die Stadtbehörden. Sie haben dazu gleich mehrere Untersuchungen durchgeführt, zuletzt 2014. Damals erhielten alle stimmberechtigten Haushalte mit den Wahlunterlagen einen Fragebogen, immerhin 8500 wurden retourniert. Die Antworten bestätigen den Eindruck aus der Strassenumfrage: Wichtige Faktoren dafür, der Urne fernzubleiben, sind das persönliche Gefühl, mit der eigenen Stimme nichts bewirken zu können, und die Komplexität des Verfahrens.
Die Untersuchung lieferte weitere Erklärungen, die durch nationale Studien gestützt werden. Biel ist eine Industriestadt, das Bildungsniveau vergleichsweise tief, das Einkommen gering. All dies führe zu einer tieferen Stimmbeteiligung – insbesondere bei komplexen Themen und bei Wahlen.
Mehr über Biel
In Biel, wo jeder Zehnte von der Fürsorge abhängig ist, akzentuiert sich das. «Wer nur knapp über die Runden kommt, hat keine Ressourcen mehr für politisches Mitwirken», sagt Anna Tanner (34). Die Bielerin ist Co-Präsidentin der kantonalen SP und kam vor einer Woche einer Wahl in den Nationalrat noch am nächsten: Sie steht auf der SP-Frauenliste auf dem ersten Ersatzplatz.
Auch die vergleichsweise junge Bevölkerung der Stadt und der hohe Anteil Eingebürgerter erhöhen nicht gerade den Grad der demokratischen Mitwirkung. Und was in Biel besonders ins Gewicht fällt: Die Stimmberechtigten französischer Muttersprache gehen im zweisprachigen Biel gemäss der Studie von 2014 deutlich seltener abstimmen oder wählen als die Deutschschweizer – Romands stellen immerhin gut 43 Prozent der Bevölkerung.
Dennoch greift es zu kurz, den frankofonen Bielerinnen und Bielern Wahlfaulheit vorzuwerfen. Ihnen fehlt offenbar viel mehr die Aussicht auf Erfolg: Welsche Kandidierende sind im deutschsprachig dominierten Kanton Bern kaum bekannt und landen bei den Wahlen regelmässig auf den hinteren Listenplätzen.
«Viele Romands fragen mich, wieso sie überhaupt wählen sollen, wenn die französischsprachigen Kandidierenden sowieso keine Chance haben», sagt der frankofone Bieler Mitte-Politiker und Journalist Mohamed Hamdaoui (59) – ein Frust, den die Bieler Romands offenbar mit dem Berner Jura teilen, der am 22. Oktober unter den Berner Verwaltungskreisen einmal mehr das Schlusslicht bei der Wahlbeteiligung war. Trotz zehn Prozent Bevölkerungsanteil wird nur ein Romand den Kanton Bern im Bundeshaus vertreten: SVP-Nationalrat Manfred Bühler (44).
Romands-Liste für Bern?
Mohamed Hamdaoui fordert deshalb einen Schulterschluss der Frankofonen: Die Parteien sollten sich im Kanton Bern auf eine gemeinsame Romands-Liste einigen, um die Wahlchancen zu erhöhen. Damit würde auch das Interesse der Wähler geweckt, ist Hamdaoui überzeugt.
Und was ist mit den Stadtbehörden? Tun sie zu wenig, um die Stimmberechtigten an die Urne zu bringen? Stadtpräsident Erich Fehr (55) schwört: «Wir haben alles getan, was wir konnten.» Vereinfachte Sprache in den Wahlunterlagen, Hotline für Rückfragen, Urnen, die schon am Samstag und Freitag zur Verfügung stehen. Fehr sieht vielmehr Parteien und lokale Medien in der Pflicht. Gerade was kommunale Anliegen betrifft, führen sie zu wenige inhaltliche Debatten. «Die Politik muss noch näher bei den Menschen sein!»
Von einer Stimmpflicht, wie sie der Kanton Schaffhausen eingeführt hat, hält Fehr aber nichts. Zwar sei das umfassende Mitspracherecht in der Schweiz einmalig und ein Privileg. Aber: «Demokratie bedeutet auch, das Stimmrecht nicht wahrnehmen zu müssen.» In Biel machen überdurchschnittlich viele von diesem Recht Gebrauch.