Es war im Herbst nach dem ersten Corona-Lockdown. Daniela (51) und Marc Paltzer (52) wollten einige Tage in die Ferien ins Tessin fahren, zum ersten Mal ohne die beiden Söhne. Der jüngere der beiden, Noah (17), war auf dem Weg ans Basketballtraining und wollte im Anschluss an eine Party. «Er winkte uns von oben an der Treppe zu und wollte dann los», erinnert sich Daniela Paltzer. Sie habe ihn gebeten, zurückzukommen und sich «richtig» zu verabschieden. Es war das letzte Mal, dass sie ihren Sohn umarmte.
Einige Stunden später erhielten die Eltern den Anruf, der ihr Leben in ein Vorher und Nachher teilte. Auf einer Kreuzung nicht weit des Elternhauses übersah ein 19-jähriger Junglenker das Motorrad des Sohns. Noah Paltzer verlor noch am Unfallort das Bewusstsein und sollte es nie wieder erlangen.
Ein Herz ausserhalb des Körpers
«Die Möglichkeit einer Organspende haben sie im Spital relativ schnell angesprochen», erzählt Marc Paltzer. Mit Noah hatten die Eltern nie über dieses Thema geredet. «Wir haben uns gefragt, was würde Noah sagen, wenn ich derjenige im Spitalbett wäre? Und da war die Antwort klar.» Der Vater, selbst passionierter Motorradfahrer, hat schon seit vielen Jahren einen Organspendeausweis.
Paltzers sind seit über 25 Jahren ein Paar. Beide haben keine medizinische Ausbildung. Er ist in der Geschäftsleitung eines Logistikunternehmens, sie arbeitet an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Trotzdem können sie mit allen Fachausdrücken beschreiben, was bei einem Hirntod passiert oder mit Fakten zur Organspende aufwarten – etwa, dass ein Herz innert weniger Stunden transplantiert werden muss, damit es in einem anderen Körper wieder schlagen kann. Oder dass man eine Leber zweiteilen kann und so mehrere Menschen Empfänger werden können, wie es bei Noah der Fall war. «Ich habe immer gefragt, gefragt, gefragt», sagt Daniela Paltzer. Wenn es um ihren Sohn geht, bricht sie schnell in Tränen aus – kann aber auch kurz darauf wieder lachen.
Noah wurde zwei Tage nach dem Unfall für hirntot erklärt. Seine Organe wurden 36 Stunden danach entnommen. Das Team des Basler Unispitals, in dem Noah behandelt wurde, sei sehr professionell und empathisch gewesen. «Wir hatten nie das Gefühl, dass sie Noah als Ersatzteillager anschauen», sagt Marc Paltzer, auch wenn sein Sohn als junger und gesunder Spender das gewissermassen gewesen sei. Fünf Personen haben Organe von Noah erhalten, darunter das Herz, die Leber und beide Nieren.
Briefe an die Empfänger
Die fünf Menschen, die Organe erhalten haben, kennen die Paltzers nicht. Anonymität ist bei der Organspende in der Schweiz vorgeschrieben. Über die Stiftung Swisstransplant konnte Daniela Paltzer den Empfängern einen Brief schreiben. «Ich wollte, dass sie wissen, was für ein wunderbarer Mensch Noah war», erzählt sie. Und es sei ihr wichtig gewesen, dass die Empfänger sich nicht schuldig fühlten, dass sie vom Tod ihres Sohnes profitierten.
Von den Eltern eines kleinen Kindes, das die Niere bekam, erhielten sie eine Dankeskarte. Bei einem zweiten traf ebenfalls eine Antwort auf den Brief ein – auch von den Eltern. «Die anderen haben sich nicht gemeldet. Und das ist auch in Ordnung so», sagt Daniela Paltzer.
Abstimmungskampf in vollem Gange
Die Organspende beschäftigt im Moment auch die politische Schweiz. Im Baselbieter Dorf, in dem die Paltzers seit über 20 Jahren wohnen, reiht sich Einfamilienhaus an Einfamilienhaus. An kaum einer Kreuzung fehlt das Abstimmungsplakat der SVP. «Zwangs-Organspende? Nein!», steht da, mit dem Bild eines Skalpells darunter. Marc Paltzer, der jeden Tag an diesen Plakaten vorbeikommt, kann nur die Augen verdrehen. «Darum geht es doch gar nicht.»
Mit der Abstimmung vom 15. Mai steht ein Paradigmenwechsel zur Debatte. Wenn der Wille nicht bekannt ist, müssen die Angehörigen entscheiden. Oft eine schwierige Entscheidung. Künftig soll in solchen Fällen davon ausgegangen werden, dass der Patient Ja gesagt hat – was die SVP zur Parole mit dem Zwang führt. Verboten bleibt die Organentnahme, wenn sich jemand nachweislich zu Lebzeiten dagegen entschieden hat.
Stolz auf den Sohn
Wichtiger als die Abstimmung selbst sei die Debatte darüber, sind sich Paltzers einig. Als Angehörige haben sie den wohl schlimmstmöglichen Fall erlebt: den Tod des eigenen Kindes. Trotzdem halten beide mit ihrer Geschichte nicht hinterm Berg. Sie haben für Swisstransplant sogar ausführlich in einem Video erzählt und geben bereitwillig Auskunft. Immer mit der gleichen Botschaft: Setzt euch mit der Frage auseinander, ob ihr Organe spenden wollt. Teilt das den Angehörigen mit – und zwar frühzeitig.
Nach der Beerdigung seines Sohns habe er sich «wahnsinnig leer gefühlt», erinnert sich Marc Paltzer. «Jede Sitzung kam mir wie Zeitverschwendung vor.» Sich zu engagieren, sei für ihn dagegen sinnstiftend. «Selbstverständlich soll sich jeder für oder gegen eine Organspende entscheiden können», betont er. «Aber den Angehörigen nimmt es unglaublich viel Druck, wenn der Wille bekannt ist.»
«Es gehört auch Stolz dazu», ergänzt Daniela Paltzer. «Fünf Menschen leben dank unseres Noahs oder haben bessere Lebensqualität.» Aus der Katastrophe für ihre Familie sei damit am Schluss doch noch etwas Gutes entstanden.