Auf einen Blick
Jetzt streiten sie wieder, die Bürgerlichen und die Gewerkschaften. Seit Wochen wird über Kennzahlen diskutiert und über vermeintliche Gewinner und Verlierer der Pensionskassen-Reform, über die Ende September abgestimmt wird. Die Chancen, dass eine weitere Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) scheitert, stehen gut. Entsprechend nervös sind die bürgerlichen Befürworter der Vorlage. Schon einmal wurde dieses Jahr über Renten gestritten, als die Initiative für eine 13. AHV anstand. Dass die linke Vorlage durchkam, war für viele ein Warnsignal.
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Die Argumente und Debatten wiederholen sich seit Jahrzehnten, egal, ob über die AHV, die Pensionskassen oder die 3. Säule abgestimmt wird. Es geht um Eigenverantwortung oder Umverteilung, um Oben gegen Unten, um Jung und Alt. Ein ewiger grosser Klassenkampf.
Im Zentrum steht die Frage: Soll der Einzelne für sich vorsorgen, oder ist es die Aufgabe des Staats, eine Absicherung für alle anzubieten? Spart jeder für sich oder sollen die Reichen für die Armen zahlen?
Die Ursprünge der Altersvorsorge
Welten prallen aufeinander. Und das war schon immer so. Die Geschichte der Altersvorsorge ist eine sehr schweizerische. Sie beginnt vor etwa 150 Jahren, denn die Idee der Altersvorsorge ist auch ein Kind der Industrialisierung und des aufkommenden Nationalstaats.
Pensionierung, wie wir sie heute kennen, gab es damals noch nicht. Man arbeitete, solange man konnte. Und dann übernahm im besseren Fall die Familie und im meist schlechteren Fall die Heimatgemeinde. Eine Rente war im 19. Jahrhundert der ganz seltene Ausnahmefall.
Die ersten Renten erhielten Staatsangestellte. Bereits 1801 wird in Bern eine Pensionskasse für «Landjäger», also Polizisten, eingerichtet. Auf die Beamtenkassen folgen erste betriebliche Fürsorgewerke. Priorität hat weniger die Altersfrage als die der Gesundheit. Als 1890 die Verfassung überarbeitet wird, schlägt die zuständige Kommission auch einen Absatz über eine Rentenversicherung vor. Umgesetzt wird dann aber nur jener, der später zur Gründung der Unfallversicherung Suva führen wird.
Bismarck als Vorbild
Doch zur gleichen Zeit geschieht in Deutschland Bemerkenswertes: Reichskanzler Otto von Bismarck installiert eine Rentenkasse, die später als Vorlage für zahlreiche Länder dienen wird. Das 1889 verabschiedete «Invaliditäts- und Alterssicherungsgesetz» garantiert eine Rente ab 70. Finanziert ist die Versicherung im Umlageverfahren und über Staatsbeiträge. Das wird auch in der Schweiz registriert.
Mehr zur BVG-Reform
Die staatliche Rente wird zunehmend zu einer Kernforderung der Linken. 1916 führt der Kanton Glarus als erster von drei Kantonen eine eigene, obligatorische AHV ein. Der Bund gründet eine Pensionskasse für das Staatspersonal. Mittlerweile bestehen zahlreiche betriebliche Pensionskassen. Und so wächst ein System heran mit unterschiedlichen Vorsorgewerken. Die Frage, wer fürs Alter abgesichert ist, hängt vor allem damit zusammen, wo er oder sie lebt und arbeitet.
Zwei Systeme kämpfen parallel um Einfluss. An Betriebe gebundene Pensionskassen, die aus einer Fürsorgepflicht heraus gegründet werden, aber auch dem praktischen Zweck dienen, die Mitarbeitenden ans Unternehmen zu binden. Und staatliche Rentensysteme nach deutschem Vorbild.
Widerstand der Konservativen und der Föderalisten
Nachdem 1918 die Suva startet, bekommt die Rentendiskussion wieder Aufwind. Selbst die bürgerlichen Parteien zeigen Interesse. Sie hoffen, Konzessionen an die Linke würden die angespannte Lage nach dem Landesstreik entschärfen. 1919 arbeitet der Bundesrat ein Gesetz aus, 1920 lanciert der Basler Freisinnige Christian Rothenberger eine Initiative, die radikaler und damit linker als der Bundesratsvorschlag daherkommt. Sie wird deutlich abgelehnt, doch 1925 wird die Grundlage für eine AHV in die Verfassung geschrieben.
Mittlerweile existieren in der Schweiz bereits 1200 Pensionskassen, in denen 262’000 von 3,9 Millionen Einwohnern versichert sind.
Das Hin und Her geht weiter. 1931 präsentiert Bundesrat Edmund Schulthess eine von der SP als minimalistisch kritisierte AHV-Vorlage, doch die Lex-Schulthess scheitert an einer Allianz von zwei Blöcken: Föderalisten, die keine Bundeslösung wollen, und Budget-Konservative, denen das Vorhaben zu teuer ist.
Der Zweite Weltkrieg ändert alles
Die grosse Wende bringt der Zweite Weltkrieg. Nicht nur führt er vielen vor Augen, was es heisst, wenn plötzlich das Einkommen wegbricht, er schweisst auch zusammen. 1940 führt der Bund eine Erwerbsersatz-Versicherung für Soldaten im Aktivdienst ein. Eine Abstimmung gibt es nicht, der Bundesrat handelt mit Kriegsvollmachten.
Noch im Krieg lancieren Linke zusammen mit Teilen der Freisinnigen einen neuen Anlauf für die AHV. Und wieder wehren sich Gewerbler, Bauern, Konservative und Arbeitgeberverbände dagegen mit den bekannten Argumenten. Doch der Krieg führt zu einem Umdenken, dem Staat wird eine stärkere Rolle zugestanden. 1944 gibt der Bundesrat erneut den Auftrag, ein AHV-Gesetz auszuarbeiten. Bereits 1947 wird darüber abgestimmt.
Es war ein hochfliegendes Reformprojekt des damaligen SP-Sozialministers Alain Berset (52): die Altersvorsorge 2020, mit der er AHV und Berufliche Vorsorge (BVG) gleichzeitig reformieren wollte. Doch in der Abstimmung 2017 folgte der Absturz. Mit 52,7 Prozent Nein schickte das Stimmvolk die Rentenreform bachab.
Daraufhin packten Bundesrat und Parlament die beiden Säulen getrennt an. Einen knappen Abstimmungserfolg verbuchte Berset zusammen mit der bürgerlichen Parlamentsmehrheit letztens bei der AHV-Reform, mit der eine Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 erfolgte.
Nun ist die Pensionskassen-Reform an der Reihe, die eine bürgerliche Mehrheit im Parlament gegen den Widerstand der Linken durchgebracht hat. Linke und Gewerkschaften haben erfolgreich das Referendum ergriffen, sodass das Stimmvolk nun am 22. September 2024 über die Reform entscheiden wird.
Das sind die wichtigsten Eckwerte:
Tieferer Umwandlungssatz
Der Mindestumwandlungssatz im BVG-Obligatorium soll von heute 6,8 Prozent auf 6,0 Prozent sinken. Das bedeutet: Auf 100'000 Franken angespartes Alterskapital gibt es nur noch 6000 statt 6800 Franken Rente pro Jahr. Das führt zu einer Rentenlücke von rund 12 Prozent.
Rentenzuschlag für Übergangsgeneration
Es ist das eigentliche Herzstück der Vorlage. Die drohende Rentenlücke soll über einen Rentenzuschlag ausgeglichen werden. Allerdings nur für eine Übergangsgeneration von 15 Jahrgängen. Zudem wird er nach Alter und Einkommen abgestuft. Für die ersten fünf Jahrgänge gibt es maximal 200 Franken monatlich, dann sinkt er ab. Wer weniger als 220'500 Franken in der Pensionskasse hat – etwa ein Viertel der Versicherten – bekommt den vollen Zuschlag. Ein weiteres Viertel mit bis 441'000 Franken Altersguthaben erhält einen Teilzuschlag. Wer mehr Geld im Rentenkässeli hat, geht leer aus. Gut die Hälfte der Versicherten bekommt also nichts. Finanziert wird der Rentenzuschlag über Lohnabzüge – allerdings begrenzt bis 176'400 Franken.
Flexibler Koordinationsabzug
Vom sogenannten Koordinationsabzug hängt ab, wie hoch der versicherte Lohn ausfällt. Einkommen minus Koordinationsabzug ergibt die versicherte Lohnsumme. Galt bisher ein fixer Abzug von 25'725 Franken, soll dieser neu 20 Prozent des Einkommens betragen. Das BVG-Obligatorium gilt bis 88'200 Franken Einkommen. Der Abzug würde in diesem Fall also 17'640 Franken ausmachen. Unter dem Strich bleibt somit ein versicherter Lohn von 70'560 Franken. Auf Letzterem müssten also die Lohnbeiträge bezahlt werden.
Angepasste Altersgutschriften
Die Lohnbeiträge in die Pensionskasse – die sogenannten Altersgutschriften – werden mit der Reform geglättet: Bis im Alter von 44 Jahren beträgt die Altersgutschrift künftig 9 Prozent (bisher 7 beziehungsweise 10 Prozent) auf dem BVG-pflichtigen Lohn. Ab 45 Jahren sind es 14 Prozent (bisher 15 beziehungsweise 18 Prozent). Damit werden die Altersgutschriften gerade bei den älteren Arbeitskräften gesenkt. Das soll ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Die Beiträge sollen wie heute ab 25 Jahren gezahlt werden.
Tiefere Eintrittsschwelle
Um in einer Pensionskasse versichert zu sein, muss man heute bei einem Arbeitgeber mindestens 22'050 Franken jährlich verdienen. Nach einem langen Hin und Her hat sich das Parlament darauf geeinigt, dass die Eintrittsschwelle auf 19'845 Franken sinken soll. Damit würden 70'000 Personen neu in einer Pensionskasse versichert, 30'000 Personen stärker als bisher. Insgesamt betrifft die Senkung 100'000 Arbeitnehmende.
Es war ein hochfliegendes Reformprojekt des damaligen SP-Sozialministers Alain Berset (52): die Altersvorsorge 2020, mit der er AHV und Berufliche Vorsorge (BVG) gleichzeitig reformieren wollte. Doch in der Abstimmung 2017 folgte der Absturz. Mit 52,7 Prozent Nein schickte das Stimmvolk die Rentenreform bachab.
Daraufhin packten Bundesrat und Parlament die beiden Säulen getrennt an. Einen knappen Abstimmungserfolg verbuchte Berset zusammen mit der bürgerlichen Parlamentsmehrheit letztens bei der AHV-Reform, mit der eine Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 erfolgte.
Nun ist die Pensionskassen-Reform an der Reihe, die eine bürgerliche Mehrheit im Parlament gegen den Widerstand der Linken durchgebracht hat. Linke und Gewerkschaften haben erfolgreich das Referendum ergriffen, sodass das Stimmvolk nun am 22. September 2024 über die Reform entscheiden wird.
Das sind die wichtigsten Eckwerte:
Tieferer Umwandlungssatz
Der Mindestumwandlungssatz im BVG-Obligatorium soll von heute 6,8 Prozent auf 6,0 Prozent sinken. Das bedeutet: Auf 100'000 Franken angespartes Alterskapital gibt es nur noch 6000 statt 6800 Franken Rente pro Jahr. Das führt zu einer Rentenlücke von rund 12 Prozent.
Rentenzuschlag für Übergangsgeneration
Es ist das eigentliche Herzstück der Vorlage. Die drohende Rentenlücke soll über einen Rentenzuschlag ausgeglichen werden. Allerdings nur für eine Übergangsgeneration von 15 Jahrgängen. Zudem wird er nach Alter und Einkommen abgestuft. Für die ersten fünf Jahrgänge gibt es maximal 200 Franken monatlich, dann sinkt er ab. Wer weniger als 220'500 Franken in der Pensionskasse hat – etwa ein Viertel der Versicherten – bekommt den vollen Zuschlag. Ein weiteres Viertel mit bis 441'000 Franken Altersguthaben erhält einen Teilzuschlag. Wer mehr Geld im Rentenkässeli hat, geht leer aus. Gut die Hälfte der Versicherten bekommt also nichts. Finanziert wird der Rentenzuschlag über Lohnabzüge – allerdings begrenzt bis 176'400 Franken.
Flexibler Koordinationsabzug
Vom sogenannten Koordinationsabzug hängt ab, wie hoch der versicherte Lohn ausfällt. Einkommen minus Koordinationsabzug ergibt die versicherte Lohnsumme. Galt bisher ein fixer Abzug von 25'725 Franken, soll dieser neu 20 Prozent des Einkommens betragen. Das BVG-Obligatorium gilt bis 88'200 Franken Einkommen. Der Abzug würde in diesem Fall also 17'640 Franken ausmachen. Unter dem Strich bleibt somit ein versicherter Lohn von 70'560 Franken. Auf Letzterem müssten also die Lohnbeiträge bezahlt werden.
Angepasste Altersgutschriften
Die Lohnbeiträge in die Pensionskasse – die sogenannten Altersgutschriften – werden mit der Reform geglättet: Bis im Alter von 44 Jahren beträgt die Altersgutschrift künftig 9 Prozent (bisher 7 beziehungsweise 10 Prozent) auf dem BVG-pflichtigen Lohn. Ab 45 Jahren sind es 14 Prozent (bisher 15 beziehungsweise 18 Prozent). Damit werden die Altersgutschriften gerade bei den älteren Arbeitskräften gesenkt. Das soll ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Die Beiträge sollen wie heute ab 25 Jahren gezahlt werden.
Tiefere Eintrittsschwelle
Um in einer Pensionskasse versichert zu sein, muss man heute bei einem Arbeitgeber mindestens 22'050 Franken jährlich verdienen. Nach einem langen Hin und Her hat sich das Parlament darauf geeinigt, dass die Eintrittsschwelle auf 19'845 Franken sinken soll. Damit würden 70'000 Personen neu in einer Pensionskasse versichert, 30'000 Personen stärker als bisher. Insgesamt betrifft die Senkung 100'000 Arbeitnehmende.
Von Linksaussen wird die Vorlage mit dem Argument bekämpft, sie gehe zu wenig weit, weil sie keine Besteuerung des Kapitals und keine reine Einheitsrente vorsieht. Und rechte Politiker monieren ein Zuviel an Umverteilung. Der Industrielle Hans Sulzer, dessen Unternehmen bereits 1920 eine eigene Pensionskasse gegründet hatte, sprach von nicht weniger als einer «Überspitzung des Wohlfahrtsstaats als Vorstufe zur Diktatur».
AHV-Rente startet als kleiner Zustupf
Trotzdem wird das Gesetz mit rund 80 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Die AHV ist geboren, die obligatorische staatliche Rentenversicherung, die zum Ärger der Bürgerlichen auf dem Umlageverfahren basiert.
Noch liefert sie nur einen Zustupf. Die Minimalrente liegt bei 40 Franken, das wären zu heutigen Preisen etwa 200 Franken. Für die meisten ersetzt das nur einen Bruchteil des letzten Lohns. Die betrieblichen Pensionskassen, schon damals eng mit den Lebensversicherern verknüpft, haben weiterhin ihre Daseinsberechtigung.
Im Aufschwung der Nachkriegszeit wird die Altersvorsorge stark ausgebaut. Nicht nur kommen immer mehr Schweizerinnen und Schweizer in den Genuss betrieblicher Pensionskassen, auch die AHV wird unter dem Basler SP-Bundesrat Hans-Peter Tschudi in mehreren Schritten stark erweitert. Innert weniger Jahre steigt die Minimalrente von 90 Franken pro Monat im Jahr 1963 bis 1975 auf 500 Franken und das Rentenalter der Frauen wird von 65 auf 62 Jahre gesenkt.
Die Drei-Säulen-Idee entsteht
Der Ausbau weckt Ängste und Begehrlichkeiten unter den Bürgerlichen, die zunehmend das System der Pensionskassen infrage gestellt sehen. Aus der Defensive heraus entwickeln sie die Idee der drei Säulen, welche nicht nur die Bedeutung der Pensionskassen festschreiben, sondern auch jene der AHV begrenzen sollen.
Erstmals offiziell erwähnt wird das Modell im Rahmen der AHV-Reform von 1963, auch wenn da noch niemand von Säulen spricht. Zur eigentlichen Geburtshelferin für das Drei-Säulen-Modell wird aber ausgerechnet die kommunistische Partei der Arbeit (PdA). 1969 lanciert sie eine Initiative für eine Volkspension, die alle AHV-Lösungen und Pensionskassen ersetzen soll, nach dem Vorbild der Einheitsversicherung der skandinavischen Länder. Die bürgerliche Schweiz wird nervös.
Die Idee der Sozialisten – mitten im Kalten Krieg – verbündet die restlichen Parteien. Mit Ausnahme vereinzelter SP-Sektionen lehnen alle Parteien die Volkspension ab. Und so wird das Drei-Säulen-Konzept zum direkten Gegenvorschlag, um die radikale Idee der PdA auszubremsen. Mit Erfolg.
Während die Volkspension klar abgelehnt wird, kommt der Gegenvorschlag mit 77 Prozent durch. Tschudi verspricht, zusammen sollen die beiden ersten Säulen 60 Prozent des Einkommens sichern – ein Wert, der bis heute als Ziel der obligatorischen Altersvorsorge gilt.
Der lange Weg zum BVG-Obligatorium
Nun sind die Radikallösungen vom Tisch und die noch immer freiwilligen und kaum regulierten Pensionskassen sind Teil der offiziellen Rentenpolitik. Ihre Bedeutung hat stark zugenommen. Die insgesamt über 10’000 Kassen verwalten 1970 bereits 37 Milliarden Franken.
Doch das Pensionskassenwesen ist nach wie vor sehr heterogen. Oft handelt es sich um Wohlfahrtsfonds, und nicht um eigentliche Versicherungen, die Beiträge erheben und Leistungen nach versicherungsmathematischen Prinzipien ausrichten.
Noch immer haben viele Angestellte nur die AHV als Alterssicherung. In den Pensionskassen bestimmen die Arbeitgeber in der Regel die Konditionen. Nicht nur gibt es kaum Mitspracherechte, auch verlieren die meisten Angestellten die Vorsorge, wenn sie die Stelle wechseln. Und so kommt zunehmend die Forderung auf, auch die Pensionskassen zu regulieren.
Erste Pläne dafür werden 1974 geschmiedet. Doch zur Umsetzung sollten noch zehn Jahre vergehen. Denn über die Details wird lange debattiert, in der Rezession der Siebzigerjahre tritt das Thema in den Hintergrund. Erst 1985 ist das Gesetz über die berufliche Vorsorge (BVG) ausgearbeitet. Das Drei-Säulen-Modell ist Realität. AHV und die zweite Säule ab einem gewissen Einkommen sind obligatorisch, die dritte Säule, das private Sparen, ist freiwillig. Die zweite Säule funktioniert nach dem Kapitaldeckungsverfahren, finanziert durch paritätisch verteilte Lohnprozente.
Neuer Streit um «Rentenklau»
Das Ringen um die Frage, welches Gewicht das kollektive und das individuelle Sparen haben sollen, ist damit rund hundert Jahre nach dem Aufkommen der Altersvorsorge vorläufig beendet. Doch die Konfliktlinien bleiben.
Zum offenen Streit kommt es, als die Schwankungsreserven zu Beginn des neuen Jahrtausends im Zuge des Börseneinbruchs schmelzen. Mitte 2002 befinden sich 26 Prozent der autonomen Kassen in Unterdeckung. Der Bundesrat will den Mindestzins senken. Das sorgt für Entrüstung. Denn wo sind die Erträge aus den fetten 1990er-Jahren hin? Nur wenige Kassen haben Mehrerträge an die Versicherten ausgeschüttet.
Die Linke wittert einen Skandal und spricht vom «Rentenklau», bei dem Milliarden in den Sack von Arbeitgebern und Vermögensverwaltern geflossen sein sollen. Viele Bürgerliche hingegen nehmen die Versicherer in Schutz. Einig ist man sich jedoch über Parteigrenzen hinweg: Es braucht mehr Transparenz und eine bessere Aufsicht. Erste Regeln werden in der 1. BVG-Revision von 2005 eingeführt.
In dieser Revision wird auch zum ersten Mal der Umwandlungssatz mit einer Übergangsfrist an die höhere Lebenserwartung angepasst.
Strukturreform und «Legal Quote»
Der Versuch, den Umwandlungssatz rascher und stärker zu senken, scheitert 2010 an der Urne. Das klare Abstimmungsergebnis zum von links ergriffenen Referendum zeugt vom anhaltenden Vertrauensproblem. Trotz der besseren Transparenz stehen vor allem die Lebensversicherer in der Schusslinie. Ihnen wird vorgeworfen, sich an ihren Sammelstiftungen zu bereichern. Als Reaktion werden Strukturreformen eingeleitet. Es wird eine sogenannte Legal Quote von 90 Prozent festgelegt. Diesen Anteil der Anlageerträge müssen die Lebensversicherer an die Versicherten weitergeben.
Weniger umstritten ist die Einführung der Freizügigkeit 1995. Damit sind die Arbeitnehmenden nicht mehr wegen der Pension an den Arbeitgeber gebunden und können die PK-Guthaben bei einem Stellenwechsel zur neuen Kasse mitnehmen. Ebenfalls seit 1995 dürfen PK-Gelder für den Kauf von Wohneigentum verwendet werden.
Auch die AHV bleibt nicht stehen. Mit der 9. AHV-Revision kommt der regelmässige Teuerungsausgleich. 1997 folgt das Individualrentensystem mit Einkommenssplitting. Ab 2001 wird das Rentenalter der Frauen stufenweise wieder angehoben. Doch weil in der Altersvorsorge zwei Ideologien aufeinanderprallen, haben es grosse Reformen schwer.
Unheilige Allianzen stoppen Reformen
Die Linke will die AHV stärken, die Bürgerlichen wollen sie klein halten. Die Linke bleibt gegenüber der zweiten Säule skeptisch und kämpft dafür, dass möglichst viel der Anlageerträge bei den Versicherten ankommt. Für Bürgerliche steht die Stabilität der zweiten Säule im Vordergrund und dass die Umverteilung von jung zu alt begrenzt wird.
2004 wie auch 2017 scheitern grosse Reformpakete an der Urne. Beim Volk finden die Kompromissvorlagen keine Mehrheit. Ein höheres Rentenalter und ein Leistungsabbau werden von der Linken bekämpft, höhere Mehrwertsteuerprozente von wirtschaftsnahen Kreisen.
Erst 2022 sagt die Schweiz zum ersten Mal seit Jahrzehnten knapp ja zu einer AHV-Reform. Um das Vorsorgewerk zu stabilisieren, wird das Rentenalter der Frauen auf 65 angehoben und die Mehrwertsteuer erhöht.
Doch das Ringen geht weiter. Denn das zuständige Bundesamt stellt später fest, dass die Berechnungsgrundlage der Prognosen fehlerhaft war, die die Dringlichkeit der Reform untermauerten. Die SP-Frauen und die Grünen haben deswegen Beschwerde eingereicht.
Den grossen Sieg erringen die Gewerkschaften zusammen mit Stimmen von der rechten Seite mit der Initiative für eine 13. AHV-Rente. Die Debatte verlagert sich nun auf die Finanzierungsfrage. Auch bei der zweiten Säule setzt sich der Klassenkampf fort, wie der Abstimmungskampf um die BVG-Reform zeigt.
Wären die AHV-Urväter Rothenberger und Schulthess noch am Leben, würden sie die Schweiz nicht mehr wiedererkennen. Nur die Debatten um die Altersvorsorge zwischen links und rechts kämen ihnen bekannt vor.