«Das ist eine sehr koloniale Sichtweise»
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Konzern-Initiative:«Das ist eine sehr koloniale Sichtweise»

Bundesrätin Keller-Sutter zur Konzernverantwortungs-Initiative
«Das ist eine sehr koloniale Sichtweise»

Der nächste Urnengang steht schon vor der Tür: Das Gespräch mit der Justiz­ministerin zeigt, wie emotional der Abstimmungskampf sein wird.
Publiziert: 10.10.2020 um 23:54 Uhr
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Aktualisiert: 07.11.2020 um 21:02 Uhr
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Bundesrätin Karin Keller-Sutter am Freitagmorgen im Bundeshaus West.
Foto: Thomas Meier
Interview: Simon Marti und Sven Zaugg

Ende November kommt die Konzernverantwortungs-Initiative an die Urne. Bundesrätin Karin Keller-Sutter (56) anerkennt den Handlungsbedarf – und setzt sich dennoch vehement für ein Nein zur Vorlage ein.

Frau Bundesrätin, warum ­sollen Schweizer Firmen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie im Ausland Flüsse verseuchen oder von Kinderarbeit profitieren?
Karin Keller-Sutter: Firmen werden in solchen Fällen bereits heute zur Rechenschaft gezogen. Das Schweizer Recht sieht vor, dass Unternehmen, die einen Schaden verursachen, gemäss dem Recht im jeweiligen Land haften. Diese Initiative mit ihrer neuen Haftungsbestimmung ist aber weltweit einzigartig.

Wo ist das Problem?
Die Unternehmen müssten auch für ihre eigenständigen Tochtergesellschaften oder wirtschaftlich abhängigen Zulieferer im Ausland haften. Dementsprechend wäre das Regionalgericht Wil gezwungen, eine Luftverschmutzung in Burkina Faso nach Schweizer Recht zu beurteilen. Das ist ein Eingriff in die Souveränität dieses Staates. Die Initiative sieht eine ex­treme Lösung vor, darum lehnen Bundesrat und Parlament die Vor­lage ab.

Grosse Rohstoffkonzerne etwa sind in Ländern mit laxen oder gar inexistenten Menschenrechts- und Umweltstandards tätig. Würde es sich daher nicht ziemen, dass Schweizer Unternehmen nach höheren Standards wie dem Schweizer Recht beurteilt werden?
Das ist eine sehr koloniale Sichtweise. Damit sagen Sie, dass die Rechtsordnung anderer Staaten jener der Schweiz unter­legen ist. Das ist anmassend. Stellen Sie sich vor, das würde Schule machen. Die Schweiz hat sich auch gewehrt, als die Amerikaner versucht haben, in unsere Rechtsordnung ein­zugreifen.

Es gibt Missstände, die angesprochen werden müssen. Das hat doch mit einer kolonialen Sichtweise nichts zu tun.
Es ist richtig, dass es Missstände gibt. Wie gesagt: Jedes Unternehmen wird bereits heute in dem Land zur Rechenschaft ­gezogen, in dem es die Regeln bricht.

Wenn Handlungsbedarf besteht – warum dieser zahnlose Gegenvorschlag?
Der Bundesrat anerkennt den Handlungsbedarf. Der Gegenvorschlag nimmt die berechtigten Themen auf. Wir wollen Unternehmen stärker in die Pflicht nehmen und setzen unter anderem bei der Kinderarbeit an. Das war mein persönliches Anliegen. Künftig müssen Unternehmen belegen, dass ihre ganze Lieferkette frei von Kinder­arbeit ist. Der Gegenvorschlag basiert bei der Haftung auf Schweizer Recht. Er ist ein Vorschlag für Herz und Verstand.

Sie anerkennen also, dass Schweizer Unternehmen mancherorts für Kinderarbeit mitverantwortlich sind?
Dass es im Einzelfall zu Fehl­leistungen kommen kann, ist klar. Alle machen Fehler. Die Wirtschaft, der Staat, auch die Hilfswerke, die sich engagieren. Doch wir lösen Probleme nicht, wenn wir Schweizer Unter­nehmen in Sambia oder Peru gegenüber ihrer ausländischen Konkurrenz benachteiligen. Der Gegenvorschlag des Par­laments ist darum inter­national abgestimmt. Er folgt den EU-Richtlinien bei Corporate Social Respon­sibility und bei Konflikt­materialien. Bei der Kinderarbeit übernehmen wir das holländische Modell. Das ist mir persönlich sehr wichtig.

Der Gegenvorschlag verlangt von den Unternehmen, ihre Geschäftstätigkeit zu dokumentieren. Denken Sie ernsthaft, dass Unternehmen ihre eigenen Vergehen anprangern?
Diese Berichterstattungspflicht dient der Transparenz. Man darf Konsumenten und Investoren nicht unterschätzen. Das wichtigste Gut der Unternehmen ist ihre Reputation. Sobald die Firmen in den Dunstkreis von Ausbeutung oder Umweltverschmutzung kommen, hat das Konsequenzen. Investoren steigen aus, Konsumenten kaufen die Produkte nicht mehr. Kommt dazu: Wenn Unternehmen die Berichterstattungspflicht verletzen, riskieren sie eine Busse von 100 000 Franken.

Diese Berichterstattung bedeutet doch auch mehr Bürokratie für die Unter­nehmen?
Ja. Aber bei einer Annahme der Initiative müsste ein Schweizer Kaffeeröster künftig jede Plantage, jeden Kaffeebauern, der ihn beliefert, einzeln überprüfen. Ein enormer Aufwand. Zieht sich ein Unternehmen in der Folge zurück, wäre das auch nicht gut für die Arbeitsplätze in diesen Staaten.

Sie sagen: Hauptsache, die Menschen in den Entwicklungsländern haben Arbeit, egal, welche und zu welchen Bedingungen. Das ist auch ein kolonialer Gedanke.
Nein. Die beste Entwicklungshilfe ist, wenn die Menschen in diesen Ländern Arbeit haben. Aber sagen Sie mir – wenn die Schweizer Unternehmen gehen, wer nimmt dann ihren Platz ein?

Sagen Sie es uns.
In Afrika wissen wir ja, dass zum Beispiel chinesische Unter­nehmen stark in den Rohstoff­abbau investieren.

Schweizer Standards können nicht weltweit gelten, aber die chinesischen, sagen Sie, seien schlechter. Wie passt das zusammen?
Eine Schweizer Unternehmung steht unter internationaler Beobachtung. Zieht sie sich zurück und es rückt eine Firma aus ­einem Staat nach, in dem weniger Wert auf die Ein­haltung von Arbeitsrecht und Menschenrechten gelegt wird, dann ist der Sache sicher nicht gedient.

Was verlangt die Vorlage?

Die Konzernverantwortungs-Initiative will, dass Schweizer Unternehmen für Verstösse gegen Umweltstandards oder gegen die Menschenrechte im Ausland haften und in der Schweiz verklagt werden können. Auch wenn nicht der Mutterkonzern ­direkt verantwortlich ist, ­sondern Tochtergesellschaften oder abhängige Zulieferer. Der indirekte Gegen­vorschlag des Bundesrats sieht eine Berichterstattungspflicht für die Unternehmen vor, ohne Aus­weitung ihrer Haftung.

Die Konzernverantwortungs-Initiative will, dass Schweizer Unternehmen für Verstösse gegen Umweltstandards oder gegen die Menschenrechte im Ausland haften und in der Schweiz verklagt werden können. Auch wenn nicht der Mutterkonzern ­direkt verantwortlich ist, ­sondern Tochtergesellschaften oder abhängige Zulieferer. Der indirekte Gegen­vorschlag des Bundesrats sieht eine Berichterstattungspflicht für die Unternehmen vor, ohne Aus­weitung ihrer Haftung.

Die Wirtschaft warnt stets lautstark vor Reformen. Das war beim Bankgeheimnis der Fall und bei der Unter­nehmenssteuerreform. Immer heisst es, Firmen würden der Schweiz den Rücken kehren. Passiert ist letztlich wenig.
Sie können das Bankgeheimnis nicht mit unserer weltweit tä­tigen Wirtschaft vergleichen. Die Schweiz verdient jeden zweiten Franken im Ausland. Eine Studie berechnete, dass etwa 80 000 Firmen von der ­Initiative betroffen wären. Diese Betriebe, darunter viele KMU, wären gegenüber der ­ausländischen Konkurrenz benachteiligt.

Der Bundesrat macht doch nur deshalb einen Gegen­vorschlag, um die Chancen der Initiative zu schmälern. Ist das Ihre Taktik, um die Vorlage zu bodigen?
Ursprünglich sah der Bundesrat keine Notwendigkeit für einen Gegenvorschlag. Nach meiner Wahl in die Landesregierung kam ich zum Schluss, dass die Schweiz zwar viel tut, aber der Zeitpunkt reif ist, dass wir mit unseren Bestimmungen zum EU-Raum aufschliessen. Ich teile den Standpunkt, wonach wir die Unternehmen stärker in die Pflicht nehmen sollten, doch das sollte international abgestimmt erfolgen.

Sollte sich der Bundesrat durchsetzen: Wer übernimmt die Überprüfung der Berichterstattungspflicht der Firmen?
Das ist Aufgabe von Revi­sions­gesellschaften. Wir schaffen bestimmt kein neues Bundesamt.

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