Wegen der Corona-Pandemie musste der Bundesrat das Jubiläumsfest aufschieben. Heute nun holt die Regierung das Feiern von 50 Jahren Frauenstimmrecht nach. Im Bundeshaus empfängt Justizministerin Karin Keller-Sutter (57) aktive und ehemalige Politikerinnen, damalige Aktivistinnen und weitere Gäste.
Die Feier fällt mitten in den Abstimmungskampf zu einem weiteren Meilenstein in Sachen Gleichstellung: der Ehe für alle. Blick hat die Bundesrätin in ihrem Büro besucht, um mit ihr über gleiche Rechte, gleiche Pflichten, Ehe und Samenspende zu sprechen – auch aus ganz persönlicher Perspektive.
Frau Bundesrätin, sind Sie froh, eine Frau zu sein?
Karin Keller-Sutter: Da ich so auf die Welt gekommen bin, habe ich mir diese Frage noch nie gestellt. Meine drei Brüder und ich wurden ähnlich erzogen, für uns alle galten die gleichen Anforderungen. Erst später – im Studium, im Berufsleben und beim Politisieren in einer bürgerlichen Partei – merkte ich, dass es etwas anders ist, eine Frau zu sein.
Woran merkten Sie das?
Bei der FDP hatte ich das Gefühl, dass man an mich als Frau höhere Anforderungen stellte als an einen Mann. Dazu kam mein Alter: Ich wurde mit 32 Kantonsrätin und mit 36 Regierungsrätin. Viele freuten sich zwar über die junge Frau in ihren Reihen. Gleichzeitig wurde mir klargemacht, dass niemand auf mich gewartet hatte.
Frauen werden in Wirtschaft und Politik derzeit händeringend gesucht. Ist es inzwischen ein Vorteil, eine Frau zu sein?
Gut ausgebildete Frauen sind gefragt. Wenn sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, kann das ein Vorteil sein.
Heute feiert die Schweiz offiziell 50 Jahre Frauenstimmrecht. Wo besteht bei der Gleichberechtigung noch der grösste Handlungsbedarf?
Gleichberechtigung geht beide Geschlechter etwas an. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie muss für jene Paare verbessert werden, die sich Erziehungs- und Erwerbsarbeit teilen wollen. Auch für viele junge Männer besteht hier Nachholbedarf. Zudem bleibt die häusliche und sexuelle Gewalt ein Dauerbrenner – selbst in gleichberechtigten Gesellschaften.
Sie haben einst gesagt, man könne nicht alles haben: Karriere, politisches Engagement, Familie. Für Frauen mag das stimmen – für Männer aber nicht.
Doch, diese Aussage trifft auf beide Geschlechter zu, und ich spreche aus persönlicher Erfahrung. Fragen Sie mal meinen Mann, wie viel ich gearbeitet habe, als ich jung Regierungsrätin wurde. Jeder Mensch hat nur 100 Prozent, die er geben kann. Für mich hätte es nicht gestimmt, zusätzlich Kinder zu haben. Manchmal muss man sich entscheiden im Leben.
Warum ist das für Frauen oft schwieriger?
Erfolg wird nach männlichen Vorbildern gedeutet, auch bei Frauen. Das heisst, man hat Erfolg, wenn man zum Beispiel Firmenchefin ist, in einem Verwaltungsrat sitzt und sich zudem politisch engagiert. Erfolg kann aber auch bedeuten, Familienfrau zu sein.
Zu gleichen Rechten gehören gleiche Pflichten. Was halten Sie von der Forderung nach einem Bürgerdienst für alle?
Da bin ich skeptisch. Der Staat, der jede Bürgerin und jeden Bürger verpflichtet, Dienst für ihn zu leisten: Das erinnert mich an die DDR. Mir ist der Gedanke unseres Milizsystems, wo man sich freiwillig engagiert, viel sympathischer. Wenn man von gleichen Rechten und Pflichten spricht, dann müsste man die Wehrpflicht für Frauen prüfen. Das wäre logischer.
Wären Sie dafür?
Das kann man sicher diskutieren. Aber ist es wirklich notwendig? Braucht die Armee mehr Leute? Wir haben eine andere Kultur als zum Beispiel Israel, wo seit je auch Frauen Dienst leisten.
Um die Gleichstellung geht es auch bei Genderstern und -Doppelpunkt.
Ganz ehrlich: Dem Genderstern kann ich nichts abgewinnen. Das ist aus meiner Sicht eine Verhunzung der Sprache. Was bringt diese ganze Gender-Diskussion einer alleinerziehenden Frau, die sich durchs Leben kämpfen muss? Was hilft diesen Frauen gegen die Rentenlücke in der zweiten Säule? Wer für Frauen kämpft, sollte über die richtigen Fragen diskutieren.
Die Argumente gegen das Frauenstimmrecht vor 50 Jahren kommen uns heute absurd vor. Wird es in 50 Jahren dasselbe sein mit den Argumenten gegen die «Ehe für alle»?
Die damalige Diskussion war bestimmt virulenter. Bei der ersten Abstimmung vom Februar 1959 wurde zum Beispiel mit dem geringeren Gewicht des weiblichen Gehirns argumentiert. Solche abstrusen Diskussionen gibt es heute zum Glück nicht mehr. Die «Ehe für alle» kommt aus der Mitte der Gesellschaft – und das ist gut so. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, gesellschaftliche Veränderungen vorzugeben, sondern er soll sie im Gesetz nachvollziehen.
Wann können die ersten lesbischen und schwulen Paare nach einem Ja heiraten?
Die «Ehe für alle» könnte frühestens am 1. Juli 2022 in Kraft treten.
Die Gegner werfen Ihnen Salamitaktik vor: Nach Homo-Ehe und Samenspende für Lesben kämen als Nächstes anonyme Samenspende für alle und Leihmutterschaft.
Das sehe ich anders. Die Leihmutterschaft ist per Verfassung verboten. Das heisst, die Hürde ist hoch, um das zu ändern – und ich persönlich bin auch klar dagegen. In der Verfassung ist zudem festgehalten, dass jeder Mensch das Recht hat auf Kenntnis seiner Abstammung. Nach dem 18. Geburtstag darf ein Kind Auskunft verlangen, wer sein biologischer Vater ist. Nur schon zu wissen, dass es ein Register mit dieser Information gibt, ist für die Betroffenen wichtig. Indem die registrierte Samenspende für verheiratete lesbische Paare legal wird, verhindern wir, dass es noch mehr anonyme Samenspenden gibt.
Wie stehen Sie zum Argument, dass ein Kind Mutter und Vater braucht?
Entscheidend ist bei der Kindererziehung nicht das Geschlecht, sondern Fürsorge, Liebe und das Umfeld. Das traditionelle Familienmodell ist sicher ideal. Doch die gesellschaftliche Realität ist heute, dass es auch andere Familienmodelle gibt. Ich kann mich erinnern: Als ich in der Primarschule war, hat man getuschelt, wenn von jemandem die Eltern geschieden waren. Heute werden 40 Prozent der Ehen geschieden.
Wenn schon völlige Gleichberechtigung: Warum dann nicht auch die Samenspende für alle erlauben? Man muss ja nicht verheiratet sein, um gute Eltern zu sein.
Ich finde es richtig, wenn man bei einer Samenspende eine Ehe voraussetzt, die mit Rechten und Pflichten verbunden ist. Was mir wichtig ist: Es gibt kein Recht auf ein Kind! Ich verstehe, dass es Paare gibt, die einen starken Kinderwunsch haben und dafür alles tun. Das ist ein persönlicher Entscheid. Ich selbst hätte das nicht gemacht, denn für mich ist das auch eine Frage der Demut.
Sie selber haben keine Kinder bekommen können. Wie hat diese Erfahrung Ihre Haltung gegenüber Adoption und Samenspende geprägt?
Eigentlich kaum. Ich hatte zwei Fehlgeburten – ein bewusster Entscheid, keine Kinder zu bekommen, war es nicht. Vielmehr hat es sich einfach so ergeben. Ich habe irgendwann gedacht, dass das Leben für mich halt einen anderen Weg bestimmt hat.
Sie sind seit 32 Jahren verheiratet. Was macht aus Ihrer Erfahrung eine glückliche Ehe aus?
Mein Mann sagt jeweils, weil er seit 32 Jahren so tolerant sei (lacht). Zentral sind gegenseitige Akzeptanz, Toleranz und Vertrauen. Und auch der Wille. Mein Mann und ich haben erst kürzlich darüber diskutiert und kamen zum Schluss: Wir könnten uns nie scheiden lassen! Weil wir den Willen haben zusammenzubleiben. Wir haben bei der Hochzeit gesagt, das sei ein Projekt fürs Leben. Dann kann man nicht beim ersten Problem davonlaufen.
Karin Keller-Sutter (57) ist die neunte Frau, die in den Bundesrat gewählt wurde. Bevor die St. Galler Freisinnige in die Landesregierung einzog, war sie zwölf Jahre lang Regierungsrätin in ihrem Heimatkanton und sass später im Ständerat. Die gelernte Dolmetscherin und Mittelschullehrerin lebt mit ihrem Mann Morten Keller in Wil SG.
Karin Keller-Sutter (57) ist die neunte Frau, die in den Bundesrat gewählt wurde. Bevor die St. Galler Freisinnige in die Landesregierung einzog, war sie zwölf Jahre lang Regierungsrätin in ihrem Heimatkanton und sass später im Ständerat. Die gelernte Dolmetscherin und Mittelschullehrerin lebt mit ihrem Mann Morten Keller in Wil SG.