Alles wird teurer, aber bei vielen stagniert der Lohn seit langem. Gewerkschafter und Linke haben ein Mittel, mit dem sie die tiefsten Saläre anheben wollen: Mindestlöhne einführen.
Nachdem 2014 die Schweizer einen solchen auf Bundesebene mit über 76 Prozent abgelehnt hatten, haben inzwischen Genf (4426 Franken pro Monat bei 42 Arbeitsstunden), Neuenburg (3838 Franken), Jura (3749 Franken), Basel-Stadt (3949 Franken) und Tessin (3549 Franken) kantonale Minimallöhne eingeführt.
Auch in Zürich (4349 Franken) und Winterthur (4186 Franken) sagte letztes Jahr eine Grossmehrheit Ja zu diesem Anliegen. Wegen hängiger Beschwerden ist der lokale Mindestlohn in diesen beiden Städten bis heute nicht in Kraft.
Am 1. Mai beginnt nun ein Stadtberner Bündnis aus Gewerkschaften, Hilfswerken und linken Parteien mit der Unterschriftensammlung für eine kommunale Initiative. Das Bündnis fordert dort einen minimalen Stundenlohn von 23.80 Franken. Davon ausgenommen sollen Minderjährige, Praktikanten und Lernende sein. «Alle Menschen sollen von ihrem Lohn leben können. Niemand soll trotz Arbeit in die Armut getrieben werden», sagt die Berner SP-Co-Präsidentin Lena Allenspach (32).
In der Stadt Bern wären schätzungsweise 8000 bis 10'000 Beschäftigte von der Initiative betroffen. Auch in der Stadt Biel wird am 1. Mai das Anliegen lanciert.
Das Thema ist in vielen Kanton gerade auf dem Tapet. So wurden auch in Solothurn und im Wallis dieses Jahr entsprechende Volksinitiativen eingereicht. In den Kantonen Freiburg und Waadt sowie in Baselland wird voraussichtlich im Herbst über die Einführung abgestimmt.
Coiffeure profitieren von Mindestlohn in Genf
Doch die Bürgerlichen laufen Sturm gegen das Engagement der Gewerkschaften in den Ständen. Der Obwaldner Mitte-Ständerat Erich Ettlin (61) reichte 2020 einen Vorstoss ein, der die kantonale Souveränität in Sachen Mindestlohn beschneiden will. Konkret fordert er, dass Bestimmungen in als allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen (GAV) Vorrang vor anderslautenden Regelungen der Kantone haben sollen.
Ettlins Hauptargument: Die Politik solle sich nicht in die Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern einmischen. Vertreter der Gastro- und Coiffeurbranche seien auf ihn zugekommen, sagte er dem Onlinemagazin «Republik» zu seiner Motivation zu seinem Vorstoss.
Bundesgericht stützt Neuenburger Mindestlohn
Eine Mehrheit im Parlament in Bern unterstützte Ettlins Motion, obwohl selbst SVP-Wirtschaftsminister Guy Parmelin (64) davor warnte. Dieser nannte das Vorhaben einen «aus staats- und demokratiepolitischer Sicht bedenklichen Eingriff». SP-Co-Präsident Cédric Wermuth (38) sprach von einem «regelrechten parlamentarischen Verfassungsbruch».
Im Kern geht es also nun darum, zu entscheiden, welcher Aspekt vorrangig ist: die Entscheidungen der Kantone oder Gemeinden – oder die Wirtschaftsfreiheit.
Auf juristischem Weg versuchten Arbeitgeberverbände bereits, durchzusetzen, dass ein GAV stets Vorrang vor dem kantonalen Mindestlohn hat. Doch das Bundesgericht, das über den Neuenburger Mindestlohn zu urteilen hatte, sah es anders: Der Einwand der Beschwerdeführer, dass das Bundesrecht den Kantonen keinen Platz für die Festlegung von Minimalsalären lasse, sei nicht zutreffend, so die Richter in Lausanne.
Die Kantone dürften nach eigenem Ermessen sozialpolitische Massnahmen einführen – und der Neuenburger Mindestlohn sei ein Mittel zur Bekämpfung der Armut und damit sozialpolitisch begründet.
«Wir ziehen Referendum in Betracht»
Eine Mehrheit in Bundesbern will dieses Urteil so nicht akzeptieren. Noch bis am 1. Mai dauert die Vernehmlassung der entsprechenden Gesetzesänderung. In der Antwort der bürgerlichen Berner Kantonsregierung darauf heisst es, die geplante Gesetzesänderung greife direkt in «die verfassungsrechtlich garantierte Souveränität der Kantone ein». Die Konferenz der kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren spricht davon, dass bei der Umsetzung Volksentscheide übersteuert würden, die in kantonalen Abstimmungen gefällt wurden.
Ganz anders sieht es derweil der Arbeitgeberverband. In einer Stellungnahme hält dieser fest, warum er Ettlins Anliegen unterstütze: «Die Sozialpartner kennen die Branchen am besten und können so ausgewogene Lösungen für Branchenanliegen und -besonderheiten in einem Gesamtpaket zusammenschnüren.»
Inzwischen haben beide Seiten sich mit juristischen Gutachten eingedeckt, die die eigene Haltung auch juristisch unterstreichen. Doch wahrscheinlich wird das Stimmvolk das letzte Wort in der Sache zu sagen haben. Denn für Wermuth ist klar: «Selbstverständlich ziehen wir ein Referendum in Betracht.» Darüber werde man entscheiden, wenn das Gesetz vom Parlament fertig beraten sei.