Behörden fehle Bodenhaftung
Epidemiologe Tanner kritisiert Schweizer Krisen-Management

Die Kantone müssen in der Corona-Krise wieder mehr Verantwortung übernehmen, fordert Epidemiologe Marcel Tanner. Und auch die Bürgerinnen und Bürger nimmt er in die Pflicht.
Publiziert: 06.09.2021 um 09:58 Uhr
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Aktualisiert: 06.09.2021 um 13:11 Uhr
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«Alle sollten sich die Frage stellen, wie sie mit diesem Instrument zur Entschärfung der Lage beitragen können. Nur so kommen wir wieder zurück zur Normalität», sagt Epidemiologe Marcel Tanner.
Foto: Annette Boutellier

Nach Bekanntwerden des Plans des Bunderats, das Covid-Zertifikat nun doch auf Beizen und andere Betriebe auszuweiten, wird der kommende Mittwoch mit Spannung erwartet. Wird die Landesregierung an ihrer Sitzung tatsächlich diesen Schritt beschliessen?

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Aus Sicht von Epidemiologe Marcel Tanner (68) ist das die falsche Frage. Der Public-Health-Experte kritisiert im Interview mit der «NZZ», dass in der Krise zu viel Verantwortung auf den Bundesrat geschoben wird. «Entscheidend sollte nicht nur sein, was der Bundesrat zur Ausweitung des Zertifikats sagt. Darüber sollten alle Beteiligten nachdenken – auch Geschäfte, Gastronomen oder Veranstalter», sagt der Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz. «Alle sollten sich die Frage stellen, wie sie mit diesem Instrument zur Entschärfung der Lage beitragen können. Nur so kommen wir wieder zurück zur Normalität.»

«Bürgerinnen und Bürger müssen wieder in der Pflicht sein»

Der Widerstand des Beizer-Verbands Gastrosuisse sei «kurzsichtig». «Damit wird Verantwortung abgeschoben und die Rückkehr zur Normalität verzögert», ärgert sich Tanner. Mit dem Virus zu leben, bedeute etwas anderes. «Die Bürgerinnen und Bürger müssen wieder in der Pflicht sein. Sonst bleiben wir immer im Krisenmodus.»

Tanner, der bis Anfang Jahr in der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes vertreten war, sieht aber nicht nur die Wirtschaft und die Gesellschaft, sondern auch Kantone und Gemeinden in der Pflicht. Die nationalen Massnahmen würden die Leute müde machen, weshalb sie oftmals nicht mehr richtig eingehalten würden. «Auch die Kommunikation mit der Bevölkerung ist auf Dauer viel einfacher und effektiver, wenn sie vor Ort erfolgt und nicht nur aus dem fernen Bundeshaus kommt», meint er. Dies erhöhe auch die Akzeptanz. Es sei darum entscheidend, dass die Verantwortung wieder zurück in die Regionen gehe.

Er kritisiert, dass den Behörden oft die Bodenhaftung fehle sowie das «Gefühl für den Kontext». Schliesslich sei es etwas ganz anderes, ob man die Pandemie in der Stadt Basel oder in einem Walliser Seitental bekämpfen müsse.

Vorbild Grossbritannien

Der Epidemiologe plädiert auch dafür, die Hausärzte stärker in die Impfkampagne einzubinden. Grossbritannien könne der Schweiz hierbei als Vorbild dienen. Dort hätten die Ärzte ihre Patientinnen und Patienten persönlich angerufen und zum Impfen aufgefordert. «Ein solches Gespräch mit einer Vertrauensperson bringt sehr viel mehr als jede gutgemeinte Kampagne. Es ist kein Zufall, dass die Impfquote in England deutlich höher ist als bei uns.»

Es mangle in der Schweiz zudem an Menschen, «die vorangehen und dabei in Kauf nehmen, dass sie dadurch möglicherweise nicht nur Applaus erhalten», kritisiert Tanner. Roche-Präsident Christoph Franz, der sich öffentlich fürs Impfen starkmachte, sei einer der wenigen Persönlichkeiten gewesen, die sich exponiert hätten. «Es wäre wünschenswert, wenn sich andere daran ein Beispiel nehmen würden.» (lha)

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