Herr Bundesrat, die Bekämpfung der Corona-Krise kostet Milliarden. Da müssten Sie es doch begrüssen, wenn die Jungsozialisten mit ihrer 99-Prozent-Initiative für höhere Steuereinnahmen sorgen wollen.
Ueli Maurer: Die Steuereinnahmen würden mit der Initiative nicht steigen. Das zu glauben, ist eine Illusion. Vielmehr würden wir gute Steuerzahlende verlieren.
Wie das?
Schon heute kommt ein Prozent der Bevölkerung für 43 Prozent der direkten Bundessteuer auf. Wenn Sie denen noch mehr aufhalsen, warten die nicht einfach wie das Kaninchen vor der Schlange darauf, dass sie mehr zahlen dürfen. Sondern sie suchen einen günstigeren Standort.
Die Steuern sind nur ein Teil des Gesamtpakets, das die Schweiz attraktiv macht. Auch die Rechtssicherheit oder die Spitzenforschung der Schweizer Hochschulen gehören dazu.
Das stimmt schon. Aber für jene, die sehr viele Steuern zahlen, ist die Höhe der Steuern ein wichtiges Element. Wenn von dem einen Prozent, das 43 Prozent der Bundessteuern zahlt, auch nur ein Viertel abwandert, sind damit bereits 10 Prozent der Einnahmen weg. Und das ist noch eine konservative Annahme. Am Ende wäre es der Mittelstand, der den Preis dafür zahlen müsste. Vielleicht sogar jene 40 Prozent, die heute keine Bundessteuern zahlen.
Diese Leute zahlen ja nur darum keine Bundessteuern, weil ihre Löhne so tief sind.
Und genau diese tiefen Einkommen profitieren am meisten von der Umverteilung – also von jenem Geld, welches das eine Prozent einzahlt. Sie erhalten verbilligte Krankenkassenprämien, Kita-Subventionen, eine Mindestrente bei der AHV. Ist weniger Geld in der Kasse, kann man auch weniger verteilen.
Ist es denn gerecht, wenn ein Prozent der Bevölkerung 40 Prozent des gesamten Vermögens in der Schweiz besitzen?
Wenn man das Vermögen aus der zweiten und dritten Säule berücksichtigt, reduziert sich der Anteil auf rund 25 Prozent.
Gut, dann besitzt ein Prozent der Bevölkerung einen Viertel des Gesamtvermögens. Die Frage bleibt: Ist das gerecht?
Wir müssen uns vielleicht einmal fragen: Warum ist die Schweiz ein reiches Land? Wieso haben wir fast keine Arbeitslosigkeit, wieso haben wir eine solch gute Ausbildung? Der Grund ist, dass wir Leute haben, die viel Vermögen haben und dieses in Forschung, Ausbildung und Arbeitsplätze investieren. Wenn man diese Leute höher besteuert, besteht die Gefahr, dass diese Investitionen nicht mehr geschehen und der Reichtum der Schweiz damit verloren geht.
Ist die Schweiz denn wirklich so reich, wenn eine halbe Million Menschen im Tieflohnsektor arbeitet?
Vergleichen Sie die Situation mit anderen Ländern! Die Schweiz ist das wohlhabendste und ausgeglichenste Land der Welt. Geben Sie mir ein Beispiel, wo der Wohlstand besser verteilt ist als in der Schweiz, wo Sie so leben können und wo Sie eine solche Ausbildung und Lebensqualität haben wie in der Schweiz. Abgesehen von ein paar Fürstentümern – gibt es ein anderes Land, das so viel bietet wie die Schweiz?
Dennoch: Wäre es nicht richtig, etwa die steigenden Krankenkassenprämien für Familien abzufedern?
Das wäre reine Symptombekämpfung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kosten im Gesundheitswesen generell sinken. Wenn man sieht, dass in gewissen Kantonen bis zu 60 Prozent der Bevölkerung Prämienverbilligungen erhalten – dann ist es das Gesundheitswesen, das krank ist.
Die Gegner der Vorlage argumentieren, dass die Initiative die KMU in Schwierigkeiten bringen würde. Wo liegt das Problem für die kleineren Unternehmen?
Ein Inhaber, der seine Firma verkaufen will, müsste - um die hohen Steuern bezahlen zu können - unter Umständen einen solch hohen Preis verlangen, dass er gar keinen Abnehmer mehr findet. Wohlgemerkt: Ich sage nicht: So kommt es. Die Initiative ist so unsorgfältig formuliert, dass man da vielleicht schon etwas machen könnte. Aber das würde vom Willen des Parlaments abhängen.
Die Juso bietet Hand dazu, für KMU praktikable Lösungen zu finden.
Natürlich sagen sie das jetzt, wo sie unter Druck sind. Tatsache ist, dass die Initiative so unsorgfältig formuliert ist, dass alles offen ist. Die Stimmbürger wissen nicht, was kommt.
Sie haben sich selber vom Bauernsohn bis ganz nach oben, zum Bundesrat, hochgearbeitet. Verliert man da ein wenig das Verständnis für jene, denen es nicht so gut läuft?
Nein. Ich habe selber erlebt, wie es ist, wenn man nicht viel verdient und Kinder hat. Und zwar nicht jahrelang, sondern jahrzehntelang. Ich verdiene jetzt als Bundesrat etwas mehr und das reicht, um die Schulden abzuzahlen, die wir machen mussten, damit alle sechs Kinder eine Ausbildung machen konnten. Wer das Gefühl hat, alles im Leben hänge vom Geld ab, muss sich vielleicht etwas umorientieren. Es gibt noch andere Werte.
Sie warnen vor der 99-Prozent-Initiative. Zugleich gleist die OECD eine globale Mindeststeuer für Unternehmen auf, die wiederum problemlos zu verkraften sein soll. Wie passt das zusammen?
Die Mindeststeuer ist nicht einfach kein Problem, sondern sie ist ein lösbares Problem. Noch ist nicht einmal klar, ob diese Steuer tatsächlich kommt. Kommt sie, gilt der Mindestsatz weltweit. Das Steuerstandort-Argument würde dann also nicht ziehen, die Schweiz würde einen Vorteil verlieren.
Wie gravierend wären die Folgen für die Schweiz?
Noch wissen wir nicht, was wirklich beschlossen werden wird. Zwar steht der Mindeststeuersatz von 15 Prozent im Raum, aber noch ist unklar, auf welchen Bemessungsgrundlagen diese 15 Prozent genau erhoben werden sollen. Betroffen wären rund 200 Schweizer Firmen und unter Umständen bis zu 4000 Tochterunternehmen ausländischer Unternehmen. Gerade von deren Verhalten hängen die Folgen letztlich ab.
Der Bundesrat hat diese Woche entschieden, dass für den Besuch im Restaurant vorderhand kein Covid-Zertifikat nötig ist. Ein Entscheid in Ihrem Sinne?
Die Zertifikatspflicht ist schwierig umzusetzen. Bei Massenveranstaltungen geht es. Aber Servierpersonal, das zum Beispiel Berufsleuten ohne Zertifikat beim Znüni den Kaffee verweigert? Das gibt ein Puff. Die Fronten haben sich jetzt schon verhärtet. Wir haben nicht nur ein gesundheitliches und wirtschaftliches Problem, sondern auch ein gesellschaftliches. Das macht mir am meisten Sorgen. Viele Menschen fragen mich: «Hat der Staat das Recht, mich zu zwingen, mich impfen zu lassen?» Das birgt Sprengpotenzial. Der Staat ist in einer schwierigen Situation. Wenn er solche Massnahmen ergreift, muss er sie auch umsetzen können.
Länder wie Österreich oder Italien setzen die Zertifikatspflicht problemlos um.
Verstehen Sie mich recht, wir könnten das auch bei uns machen. Die Frage ist einfach: Welchen gesellschaftlichen und staatspolitischen Schaden richten wir an? Ich bewege mich auch unter Leuten, die sich nicht impfen lassen wollen. Ich komme vom Land, dort ist man sehr kritisch. Das sind nicht einfach Spinner und Verschwörungstheoretiker, sondern senkrechte Schweizer, die sagen: Jetzt geht der Staat zu weit. Das ist eine Ermessensfrage. Aber letztlich geht es nicht ohne Eigenverantwortung.
Sie warnen vor einer gesellschaftlichen Spaltung. Gleichzeitig sprachen Sie kürzlich von einer drohenden Zweiklassengesellschaft. Sie und Ihre Partei senden laufend diese Signale aus, die zu einer Verhärtung der Fronten führen.
Es ist auch richtig, solche Fragen zu diskutieren. Neulich sass ich an einem Tisch, es wurde übers Impfen gesprochen. Jemand sagte, er sei geimpft, aber das dürfe er ja in dieser Runde fast nicht sagen.
Das ist doch falsch!
Natürlich ist das falsch. Das zeigt die Situation, in der wir sind. Man traut sich nicht mehr über den Weg. Das ist für die Gesellschaft nicht gut und da muss der Staat vorsichtig sein. Ich fühle mich verpflichtet, die Skepsis die in der SVP aber auch in anderen Teilen der Bevölkerung herrscht in die Diskussion einzubringen. Ich traf zum Beispiel auch auf viele junge Frauen ohne politischen Hintergrund, die sich nicht impfen lassen wollen. Die Spaltung zieht sich quer durch die Bevölkerung.
Wer sich nicht impfen lässt, nimmt in Kauf, andere anzustecken und im Extremfall einen Spitalplatz zu besetzen, den eine andere Person benötigt.
Der Staat hat nicht die Aufgabe, jede und jeden vor dem Tod und allen Krankheiten zu beschützen. Man sollte nicht zu grosse Abhängigkeiten schaffen.
Wir könnten die Pandemie beenden, wenn wir uns alle impfen liessen. Dann wäre auch die Bevormundung vorbei.
Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass dies nicht erreicht werden kann, wenn man den Leuten die Freiheit lassen muss, selber zu entscheiden. Wenn Sie sehen, was manche Menschen in den Köpfen haben, die sind auf einem eigenen Weg. In einer freiheitlichen Gesellschaft haben die Leute ein Recht, sich selber zu verwirklichen. Das bedeutet aber auch Selbstbeschränkung. Wer nicht geimpft ist, sollte auch nicht provozieren und an grosse Anlässe gehen. Aber wie soll ich als Bundesrat nun entscheiden, ob Sie sich impfen lassen sollen oder nicht? Wenn Sie sterben, sterben Sie; wenn Sie gesund bleiben, bleiben Sie gesund und wenn Sie jemanden anstecken, ist das Ihre Verantwortung. Je älter Sie werden, desto philosophischer schauen Sie auf den Tod.
Geht das Ihnen auch so?
Sicher. Mit 70 frage ich mich auch, ob ich mit 80 noch lebe. Und wie ich mein Alter gestalte.