Blick: Herr Glättli, die Grünen waren der grösste Gewinner 2019. Laut Wahlbarometer verlieren Sie jetzt am stärksten. Woran liegt es?
Balthasar Glättli: Moment, laut Wahlbarometer würden wir immer noch das zweitbeste Resultat unserer Geschichte einfahren, und spielen mit knapp zwölf Prozent weiterhin in der Liga der grossen Parteien mit. Zur Erinnerung: Einen Monat vor den Wahlen 2019 sagte man uns 2,5 Prozent weniger voraus als wir letztlich gemacht haben. Ich halte mich an die «Umfragen», die wirklich zählen: die Wahlen in den Kantonen. Da legen wir immer noch zu.
Sie haben die Frage nicht beantwortet: Warum verlieren die Grünen jetzt?
Die Umfrage ist sicher ein Weckruf für uns. Wir müssen deutlicher machen, dass der Grund für die aktuelle Energiekrise darin liegt, dass man zu wenig auf uns gehört hat. Wir verschwenden heute 40 Prozent des Stroms – statt sie mit der aktuellen Technik einzusparen. Ambitionierte Klima- und Energiepolitik heisst mehr Unabhängigkeit vom Ausland, von russischem Gas und Saudi-Öl und damit tiefere Strompreise. Das müssen wir klarer machen.
Laut Wahlbarometer finden 42 Prozent Ihrer Wähler die Grünen zu links. Haben Sie da ein Problem?
Ach was! Wenn es links ist, die Dringlichkeit der Klimakrise ernst zu nehmen, dann ist die Politik wohl nicht links genug. Wir Grüne sind gemäss der Umfrage jene Partei, die am meisten aus voller Überzeugung gewählt wird und nicht, weil den Leuten eine Alternative fehlt. Aber es gibt sicher Menschen, die uns wegen unserer Haltung zur Klimakrise wählen und denen wir allenfalls in anderen Themen zu links sind. Deshalb werden wir an der Mobilisierung arbeiten: Grün kriegt man nur, wenn man grün wählt!
Die Klimadiskussion dominieren derzeit die Klebe-Aktivisten von Renovate Switzerland. Schaden die dem Anliegen – und somit auch den Grünen?
Es ist umgekehrt: Ganz viele Leute finden, dass die Klima- und die Biodiversitätskrise zentral für uns alle sind. Das könnte uns nutzen. Denn man tut ja nichts fürs Klima, wenn man sich auf der Strasse festklebt, sondern indem man wählt.
Offenbar wechseln aber viele grüne Wähler wieder zur SP. Sie konnten nicht einlösen, was Sie versprochen haben.
Das ist unsere grösste Herausforderung. Mir ist es aber lieber, wenn wir Wähler an die SP verlieren als an die Nichtwähler. Unser Ziel muss sein, dass das linksgrüne Lager insgesamt wächst. Mit der SP streben wir daher in allen Kantonen Listenverbindungen an. Ich wäre froh, wenn auch GLP mitmachen würde.
Sollte auch das Wahlergebnis so aussehen wie das Wahlbarometer: Verzichten Sie mit noch 11,7 Prozent auf einen Bundesratssitz?
Sicher nicht! Es kann ja nicht sein, dass eine Partei wie die FDP mit 16 Prozent zwei Bundesratssitze hat und wir mit 12 gar keinen.
Aber das Machtkartell, dass Sie kürzlich angeprangert haben, dürfte angesichts dieses Ergebnisses ja weiter bestehen.
Klar ist: Schon heute ist die Verteilung der Bundesratssitze völlig ungerecht. Wir wollen am 22. Oktober 2023 weiter zuzulegen – und dann wird abgerechnet. Wir wollen im Bundesrat Verantwortung übernehmen. Unser Ziel ist es, drittstärkste Kraft im Parlament zu werden.