Hat Gesundheitsminister Alain Berset (48, SP) seinen Bundesratskollegen Informationen vorenthalten? Hat er ein Papier als weniger brisant eingestuft, als es aus heutiger Sicht erscheint? Hat er dem öffentlichen Druck auf Öffnungsschritte im Sommer 2020 nachgegeben? Diese Fragen stellen sich, nachdem der «Tages-Anzeiger» ein vertrauliches Dokument aus dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) publik machte.
Das Papier datiert vom 6. August 2020. Wenige Tage darauf hat der Bundesrat entschieden, Grossveranstaltungen ab 1. Oktober unter strengen Bedingungen wieder zuzulassen. Der Entscheid war aus Expertensicht schwer nachvollziehbar: Die wissenschaftliche Taskforce wie auch die kantonalen Gesundheitsdirektoren waren dagegen, angesichts der damals steigenden Fallzahlen diesen Lockerungsschritt zu machen. Nachträglich weiss man: zu recht. Denn es war der Anfang einer zweiten Welle, die viel heftiger über die Schweiz hereinbrechen sollte als die erste.
BAG-Experten warnten
Aus dem Dokument geht hervor: Auch intern war Gesundheitsminister Berset gewarnt. Die Arbeitsgruppe «Strategie» des BAG hielt fest: «Nachdem sich die Covid-19-Fallzahlen lange auf niedrigem Niveau bewegten, lässt sich seit Mitte Juni eine Trendwende mit kontinuierlich ansteigenden Fallzahlen feststellen». Auch die Positivitätsrate habe zugenommen, was «ein klares Signal für eine epidemische Trendwende» sei.
Es sei nur eine Frage der Zeit, bis auch die Zahl der Todesfälle zunehmen werde, so die Experten. «Entsprechend gilt es als höchste Priorität, die Anzahl der täglichen Neuinfektionen schnellstmöglich zu reduzieren und auf einem tiefen Niveau zu stabilisieren, um das Auftreten einer zweiten Epidemiewelle zu verhindern.»
Bersets Departement stoppte das Papier
An einer Sitzung mit anderen Vertretern des BAG wird die Arbeitsgruppe noch deutlicher. Aus ihrer Sicht sei eine sofortige Anpassung der Massnahmen nötig. Sie gibt zudem zu bedenken, dass «bei einem zusätzlichen Anstieg eine Anpassung der Basismassnahmen nicht mehr ausreichend sein wird, um die Fallzahlen zu kontrollieren». Das geht aus dem Sitzungsprotokoll hervor, das der Zeitung ebenfalls vorliegt.
Es soll die Absicht gewesen sein, dass Berset das Dokument als Aussprachepapier in den Gesamtbundesrat bringt. Dazu kam es nicht. Bersets Generalsekretariat habe das Papier gestoppt. Als Grund gibt eine Sprecherin an, man habe es zuerst mit den Kantonen diskutieren müssen.
Wusste die Regierung von nichts?
Ob Berset den Bundesrat über die Warnung der BAG-Experten trotzdem informierte, sagt das Innendepartement nicht. Es teilt lediglich mit, dass der Bundesrat an der Sitzung vom 12. August über die aktuelle Lagebeurteilung informiert worden sei. In dieser Lagebeurteilung stand laut «Tages-Anzeiger» aber nur, wie sich die Zahlen entwickeln – und nicht, welche Schlüsse die BAG-Strategen daraus ziehen.
Der Gesamtbundesrat wusste zu dieser Zeit aber, dass sich die Taskforce und die Gesundheitsdirektoren gegen Grossveranstaltungen aussprachen. Doch der Druck war gross, Grossevents wieder zuzulassen.
Berset räumt rückblickend ein, dass es falsch war, Grossveranstaltungen im Herbst wieder zu erlauben. Das sei «einer der grössten Fehler» gewesen, sagte er Ende Jahr in einem Gespräch im Schweizer Fernsehen. Er fügte aber rechtfertigend an, dass er stets auf Basis der aktuellsten Informationen gehandelt habe. (lha)